Zehntausende von Katalanen und Katalaninnen reisten letzte Woche mit allen verfügbaren Transportmitteln ins Herz von Europa, um vor den EU-Institutionen für „Demokratie und Freiheit“ zu demonstrieren. Die beiden größten Bürgerbewegungen, die sich für die Unabhängigkeit einsetzen, die Assemblea Nacional Catalana (ANC) und Òmnium Cultural, hatten für den 7. Dezember zur Kundgebung „Wake up, Europe“ in Brüssel aufgerufen. Laut Brüsseler Stadtpolizei nahmen mindestens 45.000 Menschen teil, die belgische Bundespolizei korrigierte die Zahl später nach oben, auf 65.000 Teilnehmer.
Schon Wochen vor dem Termin waren die meisten Direktverbindungen in die europäische Hauptstadt ausgebucht, für Resttickets musste man tief in die Tasche greifen. Die Organisatoren hatten zusätzlich 250 Busse sowie mehrere Flugzeuge angeheuert, die von Zweitflughäfen wie Girona oder Reus starteten. Da die Preise der Brüsseler Hotels in schwindelerregende Höhe geschnellt waren, fuhren viele Familien die insgesamt fast 3000 Kilometer mit dem Wohnmobil und übernachteten auf öffentlichen Parkplätzen. Die weitgereisten Demonstranten erhielten auch Unterstützung durch zahlreiche Flamen, die hunderte von katalanischen Familien bei sich aufnahmen.
Bereits auf der Hinfahrt stieß man immer wieder auf mit Unabhängigkeitsflaggen dekorierte Fahrzeuge. Auf einem Rastplatz in der Nähe von Compiègne trafen wir auf dreizehn Mitglieder einer Großfamilie aus der Nähe von Girona. Sie hatten einen Kleinbus gemietet und waren die ganze Nacht durchgefahren. Auf die Frage, warum sie sich mit so vielen kleinen Kindern auf den langen Weg nach Brüssel machten, antwortete Vater Joan: „Vielleicht hört uns dort ja jemand zu“.
Dabei scheinen sich die Demonstranten nicht ausschließlich an EU-Institutionen richten zu wollen. Nicht alle Befürworter der Unabhängigkeit verstehen, warum die katalanischen Politiker am Tag der Unabhängigkeitserklärung sang- und klanglos das Parlament verließen oder viele Pro-Unabhängigkeits-Politiker inzwischen die Zwangsverwaltung durch Madrid anerkannt haben. Auch im derzeitigen Wahlkampf in Katalonien haben einige dieser Politiker bereits angedeutet, eine einseitige Unabhängigkeit sei nach den jüngsten Ereignissen nicht möglich. Viele Befürworter weigern sich jedoch, das zu akzeptieren, denn dass Spanien in keiner Weise verhandlungsbereit ist, hat sich klar gezeigt. „Am Ende müssen die Bürger wie immer die Dinge selbst in die Hand nehmen“ beschwert sich Jordi, ein Katalane, der ebenfalls nach Brüssel unterwegs war und sich aktiv für die Unabhängigkeit in den sogenannten Komitees für die Verteidigung der Republik (CDRs) einsetzt. „Solange wir uns als Bürger mobilisieren, sind wir auf dem richtigen Weg. Wir haben letztlich nur einander, auf unsere Politiker ist auch kein Verlass mehr“, meint er.
Riesendemo ohne Zwischenfälle
Der Tag der Demo begann mit niedrigen Temperaturen und einem konstanten Nieselregen. Treffpunkt war der Parc du Cinquantenaire, der wenige Meter von den europäischen Institutionen entfernt liegt. Schon lange vor dem offiziellen Beginn hatten sich tausende von Menschen eingefunden. Sie sangen katalanische Lieder und skandierten „Unabhängigkeit“ und „Freiheit“. Dabei wurde ein Käfig mit einem jungen Mann in Handschellen durch die Menge geschoben. Ein großes Schild an der improvisierten Gefängniszelle signalisierte „Solidarität mit den politischen Gefangenen“. Diese Aktion sollte auf die noch immer inhaftierten Politiker und Aktivisten aufmerksam machen, darunter die Vorsitzenden der ANC und Òmnium Cultural, Jordi Sánchez und Jordi Cuixart. Jordi Sànchez hat inzwischen seinen Vorsitz zugunsten seiner Kandidatur für die kommenden Regionalwahlen am 21. Dezember aufgegeben. Dennoch hat der Richter Pablo Llarena seinem Gesuch auf Freilassung aus der Untersuchungshaft, um sein Recht auf die Teilnahme am Wahlkampf auszuüben, nicht stattgegeben. Die Begründung: Es bestünde das Risiko, dass die Freilassung der beiden Vertreter der bisher durchgängig friedlichen Bürgerbewegung zu einer „Explosion von Gewalt“ führen könnte.
Solcherlei Aussagen wirken besonders widersprüchlich, wenn man sieht, wie zivilisiert und familienfreundlich die Großdemonstrationen der Befürworter verlaufen, obwohl die Empörung der Menschen auf ihren Staat deutlich spürbar ist. „Wir sind hier, um unsere demokratischen Bürgerrechte, die auch Rechte aller EU-Bürger sind, einzufordern,“ sagte Ferran Civit, ein junger Mann, der in der letzten Legislaturperiode für die Esquerra Republicana de Catalunya, die Linksrepublikaner, im katalanischen Parlament saß. „Wir haben politische Gefangene, und das im Jahr 2017“ fügte ein anderer junger Mann hinzu. Er und seine Freunde waren angereist, um Europa zu zeigen, dass man so etwas nicht mit EU-Bürgern machen könne. „Dafür ist Brüssel der beste Ort. Wo sollen wir sonst hingehen, wenn uns der eigene Staat nicht zuhört?“, fragte er. Auch Marta Rovira, Spitzenkandidatin der katalanischen Linksrepublikaner, war vor Ort, um ihren „rechtmäßigen Präsidenten Puigdemont“ zu unterstützen. „Wir sind ins Herz Europas gekommen, weil wir europäische Bürger sind und an ein Europa glauben, in dem man nicht wegschaut, wenn ein Staat Gewalt gegen seine Bürger einsetzt und ihre Grundrechte verletzt. Deshalb fordern wir Unterstützung“, sagte Rovira.
Madrid gießt weiter Öl ins Feuer
Der Erfolg des „normalisierenden“ Effekts, mit dem Mariano Rajoy die Anwendung der derzeitigen Zwangsverwaltung in Katalonien zu rechtfertigen versucht, ist tatsächlich fragwürdig. Man muss nur erleben, wie der entmachtete katalanische Präsident Puigdemont in Brüssel von den Menschen gefeiert wurde. Mit einem besonders großen gelben Schal (die Farbe Gelb steht für Solidarität mit den Inhaftierten) bahnte sich der „Präsident im Exil“ wie ein Rockstar seinen Weg an die Spitze der Demonstration. Tausende skandierten einstimmig und ohrenbetäubend „Puigdemont ist unser Präsident“. Tatsächlich würde er nach neuesten Umfragen bei einer Direktwahl die meisten Stimmen bekommen, fast 30 Prozent. Dass seine Partei für enorme Einschnitte im Bildungsbereich und die Privatisierung des Gesundheitswesens verantwortlich war und lange Zeit von der linksradikalen CUP deshalb sehr kritisch gesehen wurde, tritt in den Hintergrund, wenn es darum geht, die Würde eines gedemütigten Volkes zu verteidigen. Immer wieder hat Kastilien im Laufe der jüngsten Geschichte gewaltsam in die Geschicke der katalanischen Institutionen eingegriffen. Seit der kollektiven Erfahrung der Polizeigewalt während des Referendums am 1. Oktober sind die alten Wunden wieder offen. „Wir sind hier, um unsere Unabhängigkeit zu fordern. Wir sind es leid, nicht ernstgenommen zu werden. Wir können einfach nicht mehr“, klagt Rosa, eine Dame mittleren Alters, die aus dem Küstenort Blanes angereist ist. Und fügt aus tiefster Inbrunst auf Deutsch hinzu: „Der spanische Staat ist Sch…“.
Wahlkampfevent oder Hilferuf?
Die Reaktion der spanischen Regierung auf die Demo in Brüssel ließ nicht auf sich warten. Die Vizepräsidentin und derzeit kommissarisch eingesetzte Regierungschefin in Katalonien, Soraya Sáenz de Santamaría, erinnerte die Katalanen mit einem trockenen Kommentar daran, dass diese nur dank ihres spanischen Passes in Brüssel demonstrieren könnten. Die spanische Presse sprach u.a. von einer „Demo des Hasses“.
Für den Unabhängigkeitsblock war die hohe Mobilisierung in Brüssel ein wichtiger Erfolg im Wahlkampf zu den Regionalwahlen. Obwohl die Wahlen sowohl von der linken Partei En Comú Podem als auch dem Unabhängigkeitsblock als undemokratisch gesehen werden – da von Madrid aufgezwungen –, rufen die Parteien zu einer hohen Beteiligung auf. Es ginge „entweder um Freiheit oder die Zwangsverwaltung durch Artikel 155“. Die Umfragen lassen ein knappes Rennen um die absolute Mehrheit zwischen beiden Lagern vermuten, mit En Comú Podem als Zünglein an der Waage. Im Unabhängigkeitsblock holt Puigdemonts Plattform Junts per Catalunya gerade die bisherige Favoritin, Esquerra Republicana de Catalunya (ERC), ein. Dabei bleiben viele praktische Fragen offen, zum Beispiel wie Puigdemont bei einer Wiederwahl sein Amt antreten würde, denn der Haftbefehl gegen ihn gilt in ganz Spanien. Nachdem Carles Mundó, abgesetzter Justizminister und Kandidat der Linksrepublikaner (ERC), öffentlich nach einem Alternativkandidaten gefragt hatte, deuteten Mitglieder von Junts per Catalunya an, bei einem klaren Wahlsieg würde Puigdemont trotz Haftbefehls nach Katalonien zurückkommen und „den spanischen Staat herausfordern“.
Wie ihm drohen einigen der Spitzenkandidaten insgesamt bis zu 55 Jahren Haft für mutmaßliche Straftaten wie Rebellion, Aufstand und Veruntreuung öffentlicher Gelder. Der Richter am Obersten Gericht, Pablo Llarena, will zeigen, dass alle untersuchten Exminister und die Aktivisten wie eine kriminelle Organisation gehandelt hätten, und damit eine besondere Schwere des Strafbestands nachweisen. Nach Angaben des Anwalts der ehemaligen Parlamentspräsidentin, Carme Forcadell, dem Strafrechtler Andreu van den Eynde, beobachte man eine „besorgniserregende systematische gerichtliche Verfolgung der Unabhängigkeitsbewegung seit Monaten und auf allen Ebenen“. Mindestens drei verschiedene Gerichte, das Provinzgericht von Barcelona, das Hohe Gericht von Katalonien und das Hohe spanische Gericht haben Strafverfahren gegen die Unabhängigkeitsbewegung eingeleitet. Davon sind nicht nur die Exminister und Regierungsbeamte sondern auch Stadträte, Bürgermeister, Schullehrer, einfache Bürger und Mitglieder der Regionalpolizei, den Mossos d’Esquadra, betroffen. Dass sich diese Offensive nach den von Madrid diktierten Wahlen ändern könnte, halten die meisten Unabhängigkeitsbefürworter für unwahrscheinlich.
Deshalb war die Mobilisierung im Herzen Europas für sie auch wichtig. Es geht nicht nur um Unabhängigkeit. Man befürchtet, dass ohne internationale Beobachtung die Regierungspartei von Mariano Rajoy mit Unterstützung der pro-spanischen Partei Ciutadanos die Gelegenheit nutzen wird, die Folgen der jetzigen Zwangsverwaltung auch nach den Wahlen institutionell zu verfestigen. Dazu zählt auch, die politische Meinungsfreiheit langfristig einzuschränken wie es zurzeit durch Eingriffe in katalanische öffentlich-rechtliche Medien geschieht. Auch die Verwendung des Katalanischen als Schulsprache steht im Wahlkampf der pro-spanischen Parteien erneut unter Beschuss, was für das Unabhängigkeitslager ein besonders sensibles Thema ist. Doch aus Spanien kommt auch Kritik. Mehr als eintausend spanische Juraprofessoren haben bereits in einem Manifest die Zwangsmaßnahmen, die von der spanischen Regierung und dem vom Partido Popular dominierten Senat in Katalonien getroffen wurden, scharf kritisiert, weil sie nach Meinung der Rechtsexperten über den Rahmen des Artikels 155 hinausgehen und verfassungswidrig seien. Zudem fürchten vor allem auch linke Parteien, dass mit der derzeitigen Auslegung dieses Artikels 155 die „Büchse der Pandora“ geöffnet und in Zukunft willkürliche Rezentralisierungsmaßnahmen auch in anderen Teilen Spaniens möglich gemacht werden.
Katalonien ist „der Elefant im Raum“
„Wenn die Jordis und Mitglieder der katalanischen Regierung inhaftiert oder im Exil sind, während das offizielle Europa Rajoy mit seiner Unterdrückung den Rücken stärkt, dann passieren so wunderbare Dinge wie heute: Statt uns von Europa zu entfernen, kommen wir ins Herz Europas“, sagte ein hoch motivierter Puigdemont vor seinen zehntausenden von Unterstützern bei der Demo in Brüssel. Allerdings konnte sich der Beobachter des Eindrucks nicht erwehren, dass im Gegensatz zu den Großdemonstrationen in Katalonien zwischen 2010 und 2016 auf der gesamten Brüsseler Kundgebung kaum eine Europafahne zu sehen war, und wenn, dann vor allem mit einem kritischen Kommentar wie „Shame on Europe“ versehen.
Ob Europa tatsächlich aufwacht? Sander Loones, Vizepräsident der belgischen Regierungspartei N-VA und Mitglied des Europaparlaments ist skeptisch: „Ich kann nicht glauben, dass Herr Juncker sagt, Katalonien sei eine interne Angelegenheit, es geht uns alle etwas an. Leider glaube ich nicht, dass diese Demonstration etwas nützt. Die Katalanen sind sehr proeuropäisch, aber angesichts der Stille der EU werden sie sich vielleicht von Europa abwenden“. Steven Vergauwen, Flame und Sekretär der Internationalen Bewegung Europäischer Bürger (ICEC) findet deshalb die Zusammenarbeit auf Bürgerebene besonders wichtig: „Wir haben viele Katalanen diese Tage bei uns aufgenommen. Es ist wichtig, miteinander zu reden. Das macht Europa aus.“ Dennoch sehen andere Belgier die Situation kritischer: „Ich habe die Situation verfolgt. Ich weiß nicht, ob die Katalanen unterdrückt werden. Aber ich denke, dass das europäische Projekt auf der Einheit basiert. Spanien sollte vereint bleiben“, sagt Ulrika, eine Geschäftsfrau, die die Demonstration aus der Ferne beobachtete. Frans Timmermans, Vizepräsident der EU-Kommission und EU-Kommissar für die Grundrechte Charta der EU, erklärte am Tag der Demonstration, die Demokratie könne nie den Rechtsbruch rechtfertigen, hob aber den friedlichen Charakter der Mobilisierung hervor.
Tatsächlich gab es zahlreiche positive Reaktionen aus Brüssel über das zivilisierte und achtsame Verhalten der Demonstranten. Wie nach den Generalstreiks in Katalonien hatte auch die Brüsseler Stadtreinigung wenig zu tun, da die Katalanen nach der Demo bereits alles aufgeräumt hatten. Bilder von katalanischen Feuerwehrmännern, die im Anschluss an die Demo in Brüssel zum Blutspenden gingen, machten die Runde. Auf Twitter erklärten sie: „Wenn bei uns Blut fließt, dann nur, um Solidarität zu zeigen.“
Auf Solidarität hoffen nun auch viele Katalanen. Dabei erwarten sie weniger Unterstützung vom „Klub der Staaten“, wie die EU inzwischen immer häufiger im Unabhängigkeitsblock bezeichnet wird. Eine schottische Abgeordnete im Ausschuss der Regionen, Mairi Gougeon, kritisierte erst kürzlich im The National das Schweigen der EU bezüglich der katalanischen Situation. Katalonien sei zum „Elephant in the room“ geworden.
Dabei scheinen die EU-Politiker zu übersehen, dass immer mehr Menschen aus anderen EU-Ländern auch gen Katalonien schauen, und nicht nur Anhänger von Unabhängigkeitsbewegungen. „Wir sehen in Spanien ein großes Demokratiedefizit“ meint besorgt eine Deutsche, die mit einem Reisebus voller Demonstrationsteilnehmer aus Köln nach Brüssel gereist war, um die Katalanen zu unterstützen. „Es geht gar nicht mehr um die Unabhängigkeit, sondern um die EU als Wertegemeinschaft. Wenn Europa für seine Bürger da sein will, ist die katalanische Frage die beste Chance, es zu beweisen“.
Fotos von Krystyna Schreiber