Verschiedene UnionspolitikerInnen fordern die „medizinische Altersfeststellung“ bei unbegleiteten jungen Flüchtlingen gesetzlich vorzuschreiben. Der Bundesverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, das Deutsche Kinderhilfswerk und die Ärzteorganisation IPPNW lehnen diese Vorschläge als Symbolpolitik und gefährliche Stimmungsmache ab.
Die Medizin ist nicht in der Lage, das Alter „festzustellen“. ExpertInnen sind sich einig, dass nur eine grobe Schätzung mit einer Streubreite von mehreren Jahren möglich ist. Der Beweis, dass eine Person volljährig ist, lässt sich auch durch bildgebende Verfahren nicht mit der geforderten „an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit“ erbringen. In der Praxis besteht daher ein erhebliches Risiko, dass Minderjährige durch die fehleranfällige Altersdiagnostik fälschlich zu Erwachsenen erklärt werden.
Eine präzise Feststellung des Alters ist medizinisch nicht möglich
Der Gesetzgeber hat bereits vor zwei Jahren ein Gesetz beschlossen, welches das Verfahren zur Alterseinschätzung im Rahmen der Jugendhilfe in § 42f SGB VIII abschließend regelt (Gesetz zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher, BGBl. I. 2015, S. 1802). Die ärztliche Untersuchung zur Einschätzung des Alters ist hier als ultima ratio gesetzlich festgeschrieben. Vorrang haben die Auswertung vorliegender Identitätsdokumente und die professionelle Inaugenscheinnahme pädagogisch geschulter Fachkräfte des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe. Dies entspricht kinderrechtlichen sowie europäischen und völkerrechtlichen Vorgaben, zumal medizinische Verfahren in die körperliche und seelische Integrität des Betroffenen eingreifen und kein verlässliches Ergebnis gewährleisten.
Die Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer hat im September 2016 empfohlen, bis auf weiteres Röntgen- und Genitaluntersuchungen zum Zwecke der Altersschätzung abzulehnen, ebenso die Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin. Die European Academy of Pediatrics empfiehlt seit 2015 allen Kinder- und Jugendärzten dringend, „nicht am Prozess der Altersfestsetzung von Asylbewerbern teilzunehmen, die angeben minderjährig zu sein“, und „diese Auffassung an alle anderen Ärzte weiterzugeben.“
Auch auf europäischer sowie internationaler Ebene werden medizinische Verfahren zur Einschätzung des Alters aufgrund ihrer Ungenauigkeit und ihres Eingriffscharakters abgelehnt und der Grundsatz „Im Zweifel für die Minderjährigkeit“ betont. Gerade aktuell hat sich der Europarat sowie der UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes gemeinsam mit dem UN-Ausschuss zum Schutz der Rechte aller Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen mit dieser Frage beschäftigt und dies erneut bekräftigt. Vorrangig ist deshalb bei der Ermittlung des Alters ein „interdisziplinärer und ganzheitlicher Ansatz“.
Daher lehnen wir jede weitere gesetzliche Festschreibung der medizinischen Altersdiagnostik ab. Diese kann nichts zur Klärung des tatsächlichen Alters junger Flüchtlinge beitragen, geschweige denn zur Prävention von Gewaltverbrechen, wenn auch die Forderung in diesem Kontext immer wieder reflexartig erhoben wird.