96 Prozent der Wahllokale sind weiterhin geöffnet, aktuell 337 Verletzte gemeldet, trotzdem stehen viele Katalanen noch Schlange, um abstimmen zu können
Die überfallartigen Einsätze der Bundespolizei und Guardia Civil und die Brutalität, mit der sie teilweise gegen friedlich wartende Wähler vorgingen, haben die Katalanen nicht vom Abstimmen abgehalten. Die Regierung informiert, dass 96 Prozent der Wahllokale geöffnet sind und funktionieren. Auch das Informatiksystem hat trotz mehrerer technischer Probleme, die noch ungeklärt sind, durchgehalten. Allerdings hielt das gewaltsame Vorgehen gegen die Wähler an. In einigen Fällen wurde auch Tränengas eingesetzt. In einigen Dörfern sind Barrikaden mittels Traktoren und LKWs aufgebaut wurden. Insgesamt gab es mindestens 337 Verletzte, einige davon schwer, aufgrund des gewaltsamen Vorgehens der spanischen Sicherheitskräfte, die auch Gummigeschosse einsetzten. Ein Mann musste in der Notaufnahme wegen eines Schusses ins Auge behandelt werden.
Regierungssprecher Jordi Turull bezeichnete dies in einer Pressekonferenz als unglaublich in einer Demokratie und erinnerte daran, dass der Einsatz von Gummigeschossen in Katalonien verboten ist und damit die spanischen Sicherheitskräfte „ein weiteres Gesetz gebrochen haben“. Auch bedauerte er das brutale Vorgehen der Polizei gegen die Kultusministerin Clara Ponsati, die am Morgen bei der Razzia des katalanischen Kultusministeriums von der Polizei geschlagen wurde. Turull erinnerte daran, dass die beste Antwort auf die Gewalt die Tatsache wäre, dass heute Nachmittag an 96 Prozent der Wahllokale abgestimmt wird. Der katalanische Ministerpräsident wählte in einem anderen Dorf als vorgesehen, da sein Wahllokal bereits am frühen Morgen von der spanischen Polizei gewaltsam geräumt wurde. In einer Rede erklärte er, die Friedfertigkeit der Menschen und ihre demokratische Überzeugung, mit der sie ihr Recht auf Entscheidung verteidigten, sei ihre Stärke. Außenminister Raul Romeva informierte die Presse, dass die katalanische Regierung „die Mechanismen in Bewegung setzen würde, die im Artikel 7 der EU-Charta vorgesehen sind, um das Vorgehen des spanischen Staates anzuzeigen.
Es kam auch zu Spannungen zwischen den katalanischen Polizisten, Mossos d’Esquadra, und der Guardia Civil. Erstere wiesen die Guardia Civil an einigen Wahllokalen wie in Sant Joan da la Villatorada zurück, um die Zivilbevölkerung zu schützen. An einigen Wahllokalen bildeten Feuerwehrmänner Menschenketten, um die spanischen Sicherheitskräfte abzuwiegeln. In der Industriestadt Sabadell schob die Bevölkerung die spanischen Sicherheitskräfte regelrecht wie eine Wand zurück. Auch an vielen anderen Wahllokalen in Barcelona blieben viele Menschen nach dem Abstimmen da, um zu verhindern, dass die Polizei die Wahlurne beschlagnahmt. Generell hatte man ältere Leute zuerst abstimmen lassen, vor einigen Lokalen war die Stimmung am Nachmittag locker und man sang die katalanische Hymne „Els Segadors“ (Die Schnitter).
Viele Menschen entschieden sich auch erst im Lauf des Tages, abstimmen zu gehen, nachdem sie die aufwühlenden Bilder im Fernsehen gesehen hatten. Am Gymnasium Miquel Taradell im Raval, einem historischen Viertel von Barcelona, erklärt Alicia aus Argentinien, dass sie gegen die Unabhängigkeit ist, aber das Vorgehen der Polizei hätte sie an ihre Kindheit in der Diktatur in Argentinien erinnert. So hat sie sich entschlossen, abzustimmen, „um die Demokratie verteidigen“. Josep, ein älterer Mann von 83 Jahren, hat im Kulturzentrum von Sandaru in Barcelona abgestimmt und zeigte sich zutiefst zufrieden nach dem Wahlgang: „Heute haben wir einen wichtigen Schritt getan. Auch wenn sie am Ende sagen, es gilt nicht, wir haben klar gemacht, dass wir unser Recht, was auch immer geschieht, verteidigen werden“.
Am Morgen hatte Enric Millo, Delegierter der spanischen Regierung in Katalonien in einer Pressekonferenz erklärt, man wäre zu dem Vorgehen der Polizei gezwungen worden und machte indirekt die katalanische Regierung verantwortlich. Die spanische Regierung hatte bereits am Freitag angekündigt, dass sie ab dem 2. Oktober die katalanische Regierung nicht mehr als Gesprächspartner anerkennen würde. Am heutigen Nachmittag hat die CUP im Gegenzug und in Antwort auf die heutigen Ereignisse einen Generalstreik verlangt.
Mehrere internationale Delegationen waren in ganz Katalonien unterwegs und wurden teilweise Zeuge des gewaltsamen Vorgehens der spanischen Sicherheitskräfte. Ein Liberal Democrat vom Britischen Unterhaus, Lord Rennard, hat als Beweismittel Gummikugeln, die auf die Menschen abgefeuert wurden, einbehalten. Heute Abend werten die internationalen Beobachter das Referendum aus und ziehen entsprechende Schlussfolgerungen.