Mehr als eintausend Journalisten waren am Dienstagabend im katalanischen Parlament angemeldet, davon über 300 Journalisten aus dem Ausland. Eine Mischung aus Anspannung und fieberhafter Erwartung lag fast greifbar in der Luft. Auf den Straßen um das Parlament herum fanden sich tausende Menschen ein, um auf großen Bildschirmen der Ansprache des katalanischen Präsidenten zu folgen.
Präsident Puigdemont sagte in seiner Ansprache, er habe die letzten Tage viele Vorschläge gehört und auch alle erwogen. Aber er sagte auch, er sei dem Volk und dem Mandat verpflichtet. „Mit dem Resultat des Referendums hat Katalonien sich das Recht erkämpft, einen unabhängigen Staat auszurufen“, erklärte der katalanische Regierungschef. „Wir haben in den letzten Wahlen die parlamentarische Mehrheit erreicht und in einem Referendum – unter Schlägen – auch mehr Ja als Nein Stimmen erhalten.“ Deshalb akzeptiere er das Resultat des Referendums, bat aber das Parlament die Umsetzung der Unabhängigkeit zu verzögern, um Raum für Verhandlungen mit dem spanischen Staat zu schaffen.
Man könnte meinen, viele Befürworter der Unabhängigkeit wären nun von dieser scheinbar lauwarmen Erklärung enttäuscht. Die linksradikale CUP war es definitiv, sie wollte am Dienstag eine klare Unabhängigkeitserklärung. Dennoch unterzeichnete sie noch am Abend die gemeinsame Erklärung, an der Unabhängigkeit festzuhalten, um Zeit für Dialog zu gewinnen. Auch auf der Straße hörte man am häufigsten „wir haben volles Vertrauen in den Präsidenten“ und „das war ein intelligenter Zug, denn sonst wäre er festgenommen worden und man hätte alle Parteien und Gruppen, die sich für die Unabhängigkeit einsetzen für illegal erklärt“.
Aber nicht nur das Resultat der Rede war intelligent gehandhabt, sondern vor allem die Bühne. Puigdemont nutzte die enorme mediale Aufmerksamkeit aus aller Welt, die sonst nur staatlichen Führungspersönlichkeiten zuteil wird, um a) die tatsächlichen Gründe für die Trennung von Spanien zu erklären, und b) sich an die spanischen Bürger auf Spanisch zu richten, „um gewissen Medienkampagnen entgegenzuwirken“, wie der Präsident sagte.
So erklärte Puigdemont mit eigenen Worten, was aus Sicht der Katalanen am 1. Oktober geschehen war. Er rollte den Konflikt um das Autonomiestatut von 2006 bis 2010 auf, erklärte der Welt die Entwürdigung, die die damalige Kampagne und der Einspruch vor dem Verfassungsgericht seitens der jetzigen Regierungspartei Spaniens für die Katalanen bedeutete. Der katalanische Präsident machte deutlich, dass der jetzige autonome Gesetzesrahmen von niemandem gewählt worden und teilweise minderwertiger sei als der vorhergehende von 1979 und dass deshalb inzwischen 82 Prozent der Menschen in Katalonien ein Referendum wünschten. Er hob die 18 Versuche hervor, die die katalanische Regierung und Volksvertreter gestartet hatten, um ein vereinbartes Referendum mit Madrid auszuhandeln, als es bereits eine enorme Mehrheit für das Entscheidungsrecht im katalanischen Parlament gab. Und er erklärte, wie diese Forderungen nicht nur abgewiesen wurden sondern auch, wie jegliche Emanzipierungsversuche vom Staat mit juristischer Verfolgung geahndet wird. „Es gibt keine Gesprächspartner auf der anderen Seite. Die letzte Hoffnung war, dass die Monarchie ihre vermittelnde Rolle erfüllt, was auch nicht geschah“, schlussfolgerte Puigdemont. Den spanischen Bürgern erklärte er auf Spanisch: „Wir sind nicht verrückt, wir machen keinen Staatsstreich, wir sind nicht indoktriniert. Wir sind normale Bürger, die das Recht auf Entscheidung ausüben wollen. (…) Wir haben nichts gegen Spanien oder die Spanier“.
Die Seite der Unabhängigkeitsbefürworter hat eine klare Position bezogen aber gleichzeitig ein deutliches Signal für Verhandlungen gesetzt. Nun liegt der nächste Zug, der den weiteren Verlauf der Partie entscheiden wird, bei Rajoy und den Interessengruppen Spaniens. Wenn sie den Dialog als Vermittlungsinstrument verstehen, bei dem sich beide Seiten in der Mitte treffen müssen, indem man zum Beispiel ein vereinbartes Referendum mit einer entsprechenden Pro und Kontra Kampagne in Aussicht stellt und im Gegenzug eine imminente Unabhängigkeitserklärung suspendiert wird, könnte man vielleicht Spanien noch zusammenzuhalten. Wenn man aber in Madrid immer noch denkt, dass man in der Demokratie 10:0 gewinnen muss, dann gibt es keine friedliche und demokratische Lösung für diesen Konflikt ohne internationale Vermittlung.
Puigdemont weiß das. Und er weiß auch, dass Rajoy nicht in der Lage ist, seine Linie zu ändern, wenn er nicht die Unterstützung seiner Wähler und Interessengruppen verlieren will. Puigdemont weiß aber auch, dass die Vermeidung von Gewalt wichtig ist. Dabei geht es nicht allein um die Gewalt von Staatsseite, wie sie am 1. Oktober sichtbar wurde. Es geht um die Gewalt, die auf der Straße lauert und wesentlich schwieriger zu kontrollieren ist, wie vorgestern in Valencia, als rechtsradikale Gruppen während der Diada eine pro-katalanische Gruppe angriff und auf am Boden liegende Mädchen eintrat. Nach Zeugenangaben hielten sich die spanischen Sicherheitskräfte vornehm zurück, es waren die Nachbarn und andere Menschen, die den Jugendlichen zur Hilfe kamen. Wie König Juan Carlos I. gerührt in einem Interview einmal erklärte, war der letzte und einzige Auftrag Francos an seinen königlichen Nachfolger tatsächlich „die Wahrung der Einheit des Vaterlandes“ gewesen. Dieser latente Franquismus, dessen oberstes Ziel immer die Einheit Spaniens gewesen war, fühlt sich durch die harte Linie der Regierung bestärkt und ist nun auf Mission.
Katalonien wollte immer Vorbild für eine friedliche Lösung sein, sogar helfen, Europa zu demokratisieren. Oft fragten sich Befürworter der Unabhängigkeit: „Wieso akzeptiert Europa neue Staaten, die aus blutigen Konflikten entstehen, aber nicht aus einer friedlichen Zivilbewegung?“. Die „Auszeit“, um die Puigdemont am Dienstag seine Unterstützer gebeten hat, ist nicht nur eine entscheidende Chance für Spanien, sondern vor allem für Europa.