Artikel von Gerald Oberansmayr (www.solidarwerkstatt.at)
„Der Islam greift uns an“, „Kreuzzug des Islam gegen Europa“, „So will der IS Europa erobern“, „Terrorismus und Islam gehören zusammen“, „Schutz unserer Heimat Europa vor dem Islam“ – das sind nur einige Schlagzeilen aus Medien und Politik, die aufzeigen, was mittlerweile zu einer, wenn nicht DER Großerzählung aufgeblasen wurde: „Wir“ – der Westen, das Abendland, die Europäer – sind die Opfer eines aggressiven, terroristischen Islam. Eine Entgegnung.
1. Wer ist Terrorist? Wer schafft den Nährboden des Terrors?
Die Terroranschläge, wie sie in Europa und den USA von Jihadisten verübt wurden, sind zweifellos abscheuliche Verbrechen. Doch wer die Erzählung mit diesen Terroranschlägen beginnt, erzählt nicht einmal die halbe Wahrheit, sondern tischt eine jener Großlügen auf, die bereits Adolf Hitler als Rezept für erfolgreiche Propaganda pries: „Mache die Lüge groß, mache sie einfach, wiederhole sie immer wieder, und letztendlich wird man sie glauben.“ Tatsache ist, dass die islamisch-arabische Welt seit Jahrzehnten von den westlichen Großmächten mit Feuer und Schwert, oder besser gesagt mit Interventionstruppen, Söldnern, Marschflugkörpern, Kampfbombern, Drohnen, Uranmunition, und allen Abscheulichkeiten, die das moderne Kriegsarsenal zu bieten hat, heimgesucht wurde und wird.
Über vier Millionen Tote durch westlichen Staatsterror. Alleine die Kriege gegen Irak, Libyen, Afghanistan, Pakistan, Syrien, die von den westlichen Großmächten direkt oder indirekt in der arabisch-muslimischen Welt geführt worden sind, haben eine ungeheure Blutspur hinterlassen (siehe Kasten). Über vier Millionen Menschen – vor allem Muslime – sind ihnen zum Opfer gefallen. Damit verbunden ein Meer an Leid: Verkrüppelung und Traumatisierung von Millionen, Verseuchung ganzer Landstriche, Zerstörung ganzer Volkswirtschaften, Barbarisierung der sozialen Verhältnisse – als Folge dieser Kriege oder der ihnen folgenden neoliberalen Schockprogramme und Sanktionen. Diese Kriege sind nichts anderes als Staatsterrorismus, der dazu dient, USA und EU geopolitischen Einfluss in einer der rohstoffreichsten Regionen zu sichern und damit die neoliberale Weltordnung aufrechtzuerhalten.
Über 4.000 Tote durch islamistischen Terror. Dieser Staatsterrorismus ist der Nährboden für Jihadismus und islamistischen Terror. Islamistische Terroranschläge haben im Zeitraum 2000 bis Ende 2016 in Europa und den USA 4.229 Menschen das Leben gekostet: 3.103 (73%) kamen in den USA ums Leben (alleine 2.977 bei den Anschlägen von 9/11), 584 (14%) im EU-Raum, 543 (13%) in Russland (1).
Auf 1.000 Tote durch westlichen Staatsterror kommt ein Toter durch islamistischen Terror in Europa bzw. den USA.
Es stimmt, man soll Tote nicht gegeneinander aufrechnen. Jeder Tote ist einer zu viel. Aber gibt das der Mainstream-Politik und ihren Medien das Recht, 99,9% der Toten und Leidtragenden einfach zu ignorieren – weil sie die Opfer westlicher Kriegspolitik sind, weil sie nicht dem „abendländischen Kulturkreis“ angehören, weil dann die Erzählung vom Islam, der „uns“ angreift, wie ein Kartenhaus in sich zusammenbrechen würde? Diese rassistische Opferausblendung bzw. Opfer-Täter-Umkehrung hat eine lange Tradition in der europäischen Kolonialgeschichte, in der die zu unterwerfenden „Untermenschen“ nichts zählten und daher auch deren Tote nicht gezählt wurden. Es ist richtig, sich über die menschenverachtenden Attentate in New York, Madrid, London, Paris, Nizza, Berlin, Barcelona und anderswo zu empören und die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Wo aber bleibt die Empörung über jene westlichen Machthaber, die mit ihren Kriegen und Waffenexporten das tausendfache Leid über die arabisch-muslimische Welt gebracht und damit einen Teufelskreis von Gewalt und Gegengewalt entzündet haben, der nun auch die Menschen hierzulande zur Zielscheibe macht? Wann ziehen wir diese Kriegsverbrecher zur Rechenschaft?
2. Wer sind die Finanziers des Terrors?
Die Kriegspolitik der US- und EU-Machteliten hat aber nicht nur den Nährboden für den Terrorismus geschaffen, sie hat zum Gutteil fundamentalistische Gruppierungen selbst aufgerüstet und finanziert, wenn es aus geopolitischen Überlegungen opportun erschien. Manche dieser (Un-)Geister haben sich später gegen die westlichen Zauberlehrlinge gewendet.
Einige Beispiele für diese Unterstützung: In Afghanistan wurden die islamistischen Mudschaheddin jahrelang von den USA im Kampf gegen die Sowjetunion mit Kriegsgerät versorgt und militärisch ausgebildet. Erst die gezielte Zerstörung Jugoslawiens durch westliche Politik und NATO-Bomben machten Teile des Balkans zum Einflussgebiet eines radikalen Islams, der davor in diesem Raum völlig unbekannt war. Im Krieg gegen Libyen spielten USA und EU die Luftwaffe für jihadistische Verbände. Auch in Syrien förderten die westlichen Großmächte von Anfang an radikalislamistische Gruppierungen, um das laizistische Assad-Regime zu stürzen. Das bestätigt sogar ein Bericht des US-amerikanischen Militärgeheimdienstes DIA. Ein US-Berater informierte die damalige Außenministerin Hillary Clinton „Al Qaida ist auf unserer Seite in Syrien“. Die größten Finanziers und das ideologische Rückgrat des jihadistischen Terrors sind Golfdiktaturen wie Saudi-Arabien, Vereinigte Arabische Emirate und Katar. Über 90% der Waffenlieferungen an diese Länder stammen aus EU oder USA.
3. Wer sind die Nutznießer des Terrors?
Diese Frage lässt sich leicht beantworten: jene, die wissen, dass man mächtige Feindbilder im Innern und Außen aufbauen und permanente Angst in der Bevölkerung schüren muss, um die Menschen für die herrschaftlichen Zumutungen gefügig zu machen: für den neoliberalen Abbau des Sozialstaates, für den Ausbau eines überbordenden Überwachungsstaates, für den Aufbau einer waffenstarrenden EU-Militärmacht. Der Terrorismus liefert den Mächtigen die ideologische Munition, damit sich die Unzufriedenheit breiter Bevölkerungsschichten nicht „gegen die da oben“, sondern „gegen die da unten“ richtet, gegen Muslime, gegen Flüchtlinge, gegen „Schurkenstaaten“.
Manche ziehen daraus den Schluss, dass bei vielen Terroranschläge der „tiefe Staat“ mit seinen klandestinen Verflechtungen von Geheimdiensten, Militär und Politik seine Finger im Spiel hat. Solcher Argwohn kann nicht von vornherein als Hirngespinst abgetan werden, das zeigen historische Erfahrungen. So wurde z.B. Italien in den 70er Jahren von einer Welle des Terrors heimgesucht, der den „Roten Brigaden“ (RB) zugeschrieben wurde. Jahrzehnte später erst kam ans Tageslicht, dass Attentate, für die die RB verantwortlich gemacht wurden, von einem Netzwerk aus Geheimdiensten und rechtsextremen Zirkeln inszeniert worden waren, um durch eine „Strategie der Spannung“ eine Regierungsbeteiligung der Kommunisten in Italien zu vereiteln. Freilich bringen Pauschalverdächtigungen nicht weiter, sondern nur konkrete faktenbasierte Aufdeckungsarbeit. Das Entscheidende ist auch nicht, ob Geheimdienste da oder dort mitgefingert haben, sondern dass die westliche Großmachtspolitik für Millionen von Menschen zum (staats-)terroristischen Alptraum wurde, der ununterbrochen weiteren Terror schafft. Sobald der Teufelskreis der Gewalt einmal angestoßen ist, braucht es ohnehin nicht mehr viel, um ihn in Schwung zu halten.
Auch die österreichischen Machthaber sind – insbesondere seit dem EU-Beitritt – tief in diese westliche Kriegspolitik verstrickt: durch NATO/EU-Waffen- und Truppentransporte durch unser Land, durch die Unterstützung der EU-Kriegspolitik in den Ländern des Südens und Ostens, durch Waffenexporte, durch die Bereitschaft im Rahmen von EU-Battlegroups bei Militärinterventionen im Nahen Osten oder Afrika mitzumarschieren.
4. Was können wir gegen Terror tun?
Der verstorbene Gewerkschafter und Umweltaktivist Günther Nenning meinte einst: „Neutralität ist der Versuch, sich vom abendländischen Größenwahn abzukoppeln.“ Diese Abkoppelung ist auch die beste Terrorprävention. In diesem Sinn gilt es, jede Komplizenschaft mit dem Staatsterror von EU und USA konsequent zu beenden. Schluss mit Waffen- und Truppentransporten durch unser Land, Ausstieg aus den EU-Battlegroups! Endlich wieder eine eigenständige Außenpolitik, die sich friedenspolitisch engagiert statt der kriegstreiberischen Politik von Brüssel und Berlin hinterherzuhecheln! Wer keine Gewalt exportiert, läuft auch viel weniger Gefahr, sie zu importieren. Aktive Neutralitätspolitik ist daher nicht nur ein wichtiger Beitrag zur friedlichen Beilegung von internationalen Konflikten, sie schützt auch die Menschen in Österreich vor Kriegsabenteuern und Terrorgefahren. Neutralität ist außerdem ein guter Rahmen, um im Inneren eine Politik des sozialen Ausgleichs zu betreiben. Denn ein Land, das seine inneren sozialen Konflikte nicht durch Gewalt nach außen kanalisieren kann und will, ist ungleich stärker darauf angewiesen, auch im Inneren Existenzsicherheit, Arbeit und Teilhabe für alle abzusichern. Auch das ist konkrete Terrorprävention: Soziale Sicherheit schützt davor, dass Menschen in eine Perspektivlosigkeit gestoßen werden, die sie für gewaltverherrlichende Ideologien anfällig macht.
Quellen:
(1) Jüdische Rundschau, August 2016, eigene Recherchen