Von Maxine Lowy
Frauen in Chile begegnen Gewalt gegen Frauen durch Singen und führen so die nationale Tradition, mit Musik als Instrument gegen soziale Ungerechtigkeit und für Menschenrechte zu kämpfen, weiter.
Mitte Mai 2016 wurde in den frühen Morgenstunden eine junge Frau bewusstlos auf dem Boden liegend in Coyhaique, einer Stadt nahe der südlichen Spitze von Chile, gefunden. Sie war stark unterkühlt und ihre Augen ausgestochen. Ein Jahr später kannte jeder in Chile den Namen Nabila Rifo sowie die schrecklichen Details des Angriffs ihres früheren Ehemannes auf sie, den auch ihre vier Kinder mit ansehen mussten. Mit der Entscheidung des Strafgerichtes von Coyhaique vom 2. Mai 2017, das den Täter wegen versuchten Femizids und schwerer Körperverletzung zu 26 Jahren Haft verurteilte, könnte ihr Name ein Synonym für Gerechtigkeit werden, die den Opfern von Gewalt gegen Frauen in Chile so oft versagt wird.
Einige Tage später und 1.600 Kilometer weiter nördlich in Santiago wurde ein Lied herausgebracht, das darauf abzielt, zu einem kulturellen Instrument zu werden, um Gewalttaten, wie sie Nabila erlitten hat, in Zukunft zu vermeiden. Am 5. Mai wurde „Nunca más, mujer“ („Niemals wieder, Frau“) während des nationalen Kongresses des chilenischen Netzwerks gegen Gewalt an Frauen aufgenommen; es tritt somit in die Fußstapfen der Canto Nuevo (Neues Lied) Bewegung, die Mitte der 70er Jahre als regimekritischer Ausdruck gegen die Pinochet-Diktatur aufkam. So wie der deutlich lateinamerikanische Rhythmus des Canto Nuevo Hoffnung und Widerstand gegen das repressive Pinochet-Regime inspirierte, entstand auch „Nunca más, mujer“ aus einem kollektiven Engagement heraus und mit der Absicht, viel mehr als nur eine Melodie zu sein.
Ähnlich wie die Protagonisten der Canto Nuevo Bewegung die von der Diktatur verübte Gewalt als Zielscheibe ihrer Musik sahen, hat „Nunca más, mujer“ die kulturell-verankerte Gewalt gegen Frauen im Visier. Doch während die Sänger von Canto Nuevo meist männlich waren, wurde dieses Lied von Frauen geschrieben, arrangiert und gesungen..
„Nunca más, mujer“ entstand in einem Workshop von Liedermacherinnen, die im November 2016 von der U.S. Sängerin, Feministin und Friedensaktivistin Holly Near und der Stiftung Educación Popular en Salud EPES (Stiftung für öffentliche Bildung und Gesundheit) in Santiago de Chile zusammengerufen worden waren…
Nears Lied „There’s a woman missing in Chile“ und ihre Auftritte mit Inti-Illimani quer durch die Vereinigten Staaten in dem 80er halfen, die Verurteilung der Menschenrechtsverletzungen der chilenischen Diktatur in der breiten Öffentlichkeit zu entfachen. Mit Songs wie „Singing for our Lives“ mobilisierte sie mit ihrer Stimme Tausende gegen sexuelle Gewalt und für die „Take Back the Night“- Kampagne, die in den 70er begann und in den frühen 2000ern wieder erstarkte, so wie auch die Marches for Women’s Lives in den Vereinigten Staaten.
Seit ihrer Gründung im Jahr 1982 hat die EPES Stiftung eine innovative, partizipatorische Methodologie entwickelt, die Frauen der Arbeiterklasse dazu ermächtigt, für ihr Recht auf Gesundheit zu kämpfen. Ihre Sicht auf soziale Voraussetzungen für Gesundheit aus einem Geschlechter-gerechtem Blickwinkel heraus hat die Gesundheitspolitik im Bezug auf Themen wie HIV/AIDS-Prävention und Gewalt gegen Frauen positiv beeinflusst und mitgeformt.
Unter Chiles Militärdiktatur wurden tausende von politischen Gefangenen gequält, aber weibliche Gefangene wurden insbesondere Opfer von sexueller Gewalt. Heute schätzt die Regierungsorganisation Servicio Nacional de la Mujer SERNAM (Nationaler Gesundheitsdienst für Frauen), dass die Hälfte aller chilenischen Frauen häusliche Gewalt von ihren Partnern erfahren haben. Seit 2010, als das Netzwerk gegen Gewalt an Frauen damit begann, die Fälle systematisch aufzuzeichnen, wurden jedes Jahr zwischen 45 und 65 Frauen von ihrem Partner oder ehemaligen Partner umgebracht.
Holly Near und EPES glauben, dass Musik die Kraft hat, einen Riss in diese kulturell eingravierte Praktik zu reissen. Der Glauben an die Macht des Liedes, sozialen Wandel herbeizuführen, ist dabei derselbe wie bei der Canto Nuevo Bewegung.
Maria Eugenia Calvin, Sozialarbeiterin und Gründungsmitglied des EPES-Teams koordiniert die Initiativen der Organisation gegen Gewalt an Frauen. Calvin erklärt ihre Erwartungen an „Nunca más, mujer“, dessen Produktion und Marketing von EPES finanziert wurden: „Konkret erhoffe ich mir, dass die Worte dieses Lieds vielen anderen Frauen helfen werden, zu realisieren, dass sie in Situationen von Gewalt leben, dass sie nicht allein sind, und dass es ihnen hilft, ihre eigene Autonomie wiederzuerlangen, wenn sie die Stimmen anderer Frauen hören, die rufen: „Niemals wieder“. Die Kultur legitimiert Gewalt gegen Frauen durch Bilder, Songs, Literatur und Witze… Wir hoffen, dass das Lied zu einem kulturellen Instrument wird, im Dienste des Engagements zu größerem Bewusstsein und zur Mobilisierung von Frauenorganisationen, die für die Rechte von Frauen kämpfen, und dass es die diskriminierende Macht in zwischengeschlechtlichen Beziehungen transformiert“.
Die Sängerin und Liedermacherinnen Cecilia Concha Laborde und Claudia Stern haben das Lied ehrenamtlich produziert, nachdem sie an dem von Holly Near organisierten Workshop in Chile im November 2016 teilgenommen hatten. Für Concha Laborde, Gründerin der lateinamerikanischen Frauenorganisation Trovaderas sin Froteras (Troubadourinnen ohne Grenzen), „ist unser Ziel ehrgeizig. Wir wollen, dass das Lied zu einem Mittel der Transformation wird. Wir wollen, dass es nicht nur die Ungerechtigkeit anklagt, sondern diese auch ändert. Historisch gesehen enthüllen Lieder mit sozialer Botschaft Ungerechtigkeit, aber das ist nicht alles. Sie mobilisieren auch, sie überzeugen und sie inspirieren Menschen, ungerechte Situationen zu verändern.“
Concha Laborde erzählt auch, was das Lied für sie persönlich bedeutet: „Dieser spezielle Song kommt von ganz tief aus uns heraus; jede von uns hat etwas erlebt oder davon gehört, wie unsere Großmütter, Tanten, Mütter oder Töchter genderspezifische Gewalt durchleben mussten. Die Gelegenheit, zusammen etwas zu schaffen, das so viel Hoffnung enthält und die Möglichkeit, anderen Frauen zu helfen, die gegen diese Form von Gewalt kämpfen müssen, war eine wahrhaft bewegende Erfahrung.“
Claudia Stern, Cecilia Laborde, Jacqueline Castro und die US-amerikanische Christelle Durandy, die auch am Workshop teilgenommen hatten, komponierten die einfachen aber direkten Zeilen von „Nuna más, mujer“. Elizabeth Morris steuerte die Instrumentalisierung bei. Nachdem der Track aufgenommen war, trafen sich die Workshop-Teilnehmerinnen im Naranja Mecánica (Uhrwerk Orange) Studio in Santiago wieder, um die Stimmen aufzunehmen. Die eingängige Melodie des Songs, mit leichter Anspielung an traditionelle Mapuche-Rhythmen, beginnt zunächst mit Solostimmen, in die dann der kraftvolle Chor in einem Crescendo einstimmt.
Die acht Stimmen, die man in „Nunca más, mujer“ hört, sind die von Alexandra Acuña, Isabel Aldunate, Jacqueline Castro, Cecilia Concha Laborde, Evelyn González, Nicole Gutiérrez, Yasna Millaqueo und Claudia Stern. Eine dieser Stimmen ist die direkte Verbindung zur Canto Nuevo Bewegung; Isabel Aldunate, deren Soprano-Stimme 1977 während der Diktatur zum ersten Mal gehört wurde, sagt, dass sie durch das Singen von Liedern wie „Yo te nombro Libertad“ (Ich nenne dich Freiheit) provozieren wollte, um allem klar zu machen „wir sind hier“ und „wir sind Tausende!“.
Aldunate, die vor kurzem mit ihrer Interpretation der Gedichte von Nobelpreisträgerin Gabriela Mistral auftrat, bekräftigt: „Als ich aufwuchs, wusste ich von dieser Behandlung von Frauen, aber niemand sprach darüber“. Es existierte auch unter der chilenischen Diktatur, aber „es war von einem Tyrann, der Menschen umbrachte, sie verschwinden ließ, sie quälte und sie ins Exil schickte, überschattet“, sagt sie. „Dieses Lied wird das Erholen von etwas sehr Wichtigem erlauben, was wir unter der Diktatur hatte, und was uns aber später verloren ging: Solidarität. Das Lied ruft die Solidarität in uns an und wird uns helfen, uns zusammenzutun. Wir konnten diese Diktatur besiegen, weil wir vereint waren und jetzt werden wir uns wieder vereinen, um diese andere Diktatur zu besiegen, die so viele Frauen leiden lässt“.
„Als ich die Aufnahme zum ersten Mal hörte, hat sie mich sofort ergriffen, der Song ging mir für Tage im Kopf herum. Das sagt einiges über seine Kraft. Ich glaube, dass etwas sehr Schönes mit diesem Song passiert. Eines Tages wird er von Tausenden gesungen wurden“ meint Aldunate.
In Coyhaique, wenige Tage vor dem Richterspruch, erklärte Nabila Rifo „Ich hoffe, niemand muss das erleben, was mir passiert ist. Es muss sich etwas ändern; nicht eine einzige Frau mehr soll jemals wieder irgendwo attackiert werden.“
Vielleicht werden Nabilas Kinder, traumatisiert von der Gewalt, die ihre Familie auseinandergerissen hat, „Nunca más, mujer“ auch eines Tages hören und verstehen, wie wichtig es ist, dass sich Frauen und Männer erheben, um ein Leben ohne Gewalt einzufordern.
Der 3-minütige Videoclip zu „Nunca más, mujer“:
Übersetzung aus dem Englischen von Evelyn Rottengatter