20.01.2017. Gestern war ein intensiver und erlebnisreicher Tag für das Team von “Welcome to the Cantri” (zweiter Dokumentarfilm über Tupac Amaru nach “Tupac Amaru – Etwas verändert sich”), das sich in diesen Tagen in Jujuy befindet. Der Bericht – exklusiv für Pressenza – kommt von Fulvio Faro, einem der Humanisten, der das von Magalí Buj und Federico Palumbo koordinierte Team begleitet und unterstützt.
Es war ein guter Tag, um Milagro Sala und die anderen Mitgefangenen zu besuchen und das hat auch irgendwie den Charakter des Tages bestimmt.
Der Morgen beginnt mit einem zufälligen Treffen im Sitz von Tupac Amaru mit einer der Protagonisten der ersten Stunde, die wir auch interviewen wollten, „Pachica“, die ehemalige Schatzmeisterin der Organisation… Es war eine Versuch, denn kurz nachdem wir zu filmen begonnen hatten, merkten wir und vor allem auch sie selber, dass über ihre Geschichte mit Tupac Amaru zu sprechen angesichts der Katastrophe ihrer plötzlichen präventiven Inhaftierung für 10 Monate, die erst seit kurzem beendet ist, und mit dem Schock, den das für sie und ihre Familie und ihr Umfeld bedeutete, das Thema einfach noch zu „frisch“ und psychologisch zu belastend war und zu viele Emotionen hervorgerufen hätte.
Wir haben wenig Zeit, über all das nachzudenken, denn schon befinden wir uns vor dem Gefängnis von Alto Comedero, zusammen mit einem guten Dutzend anderen Personen, und warten darauf, hineingelassen zu werden, um mit Milagro und ihren Kameradinnen sprechen zu können. Zu Gesprächen in drei Gruppen aufgeteilt warten Journalisten, Mitglieder des Komitees zur Befreiung von Milagro Sala, einige Leiter der Gewerkschaft ATE, Aktivisten von Tupac und anderer Organisationen und auch Milagros Ehemann, Raúl Noro, der ebenfalls erst seit kurzem aus der präventiven Haft entlassen wurde. Ich gehe mit der letzten Gruppe hinein, die nur wenig Zeit zur Verfügung hat, aber in dieser kurzen Zeit versuche ich, so gut wie möglich „menschlichen Kontakt“ mit den Personen sowie auch der Situation zu knüpfen.
Milagro ist „flaca“ (mager), vielleicht noch magerer als normalerweise, mit einem Knieschützer, der ihr Knie schonen soll. Ich treffe sie, während sie mit Familienangehörigen einer der Inhaftierten spricht, die Geburtstag hat; sie begrüßt uns herzlich, spricht mit anderen, bietet uns Gebäck an und setzt sich schließlich mit uns und ihrem Ehemann zusammen und beginnt, spielerisch von einigen Schlüsselszenen ihres Lebens zu erzählen, die gut den Geist der Rebellion einer Person wiederspiegeln, die sich dazu berufen fühlt, die Würde eines ganzen Volkes zu interpretieren. Zum Schluss erzählt sie auch von ihrem Treffen mit Papst Bergoglio im Vatikan, kurz vor ihrer Inhaftierung, als der Papst im Namen der katholischen Kirche um Vergebung für das Unrecht bat, das den indigenen Völkern Amerikas während der kolonialen Vergangenheit angetan wurde, und wie er sie auch bat, dass all das noch privat unter ihnen bliebe, bis er die rechte Gelegenheit finden würde, es publik zu machen (und das geschah Monate danach während einer Rede, die er bei seinem Besuch in Bolivien hielt). So vergeht die Zeit im Flug und bald ist die Besuchszeit zu Ende und alle fünf Aktivistinnen verabschieden uns am Tor und sehen uns zu, wie wir uns Schritt für Schritt wieder entfernen…
Eine der fünf Kameradinnen war sichtbar erschöpft, nicht so sehr Milagro selber, die – so erzählt uns ihr Mann Raúl – sofort mit den anderen Insassen eine Atmosphäre gegenseitiger Unterstützung (das merkt man auch) aufgebaut und sich für Verbesserungen der Bedingungen im Gefängnis bezüglich Besuchsregelungen und sanitärer Hygiene eingesetzt hat.
Nach einem kurzen Interview mit Raúl, das wir in den nächsten Tagen sichten werden, sind wir dann auch schon wieder im Sitz von Tupac Amaru angekommen, um Aufnahmen zu drehen, bei denen folgende Protagonisten zu Wort kommen: Laura, die Aktivste zur Zeit, die praktisch eigenhändig den Sitz sowie ein Minimum an Aktivitäten am Laufen hält und auch dort schläft, die Psychologin, die Milagro betreut sowie die Sekretärin des nationalen Komitees. Zum Schluss ein Interview mit der Ehefrau des einzigen männlichen Gefangenen, der in Isolationshaft sitzt. Sie erzählt, dass der Neffe ihres Mannes ermordet wurde, sie selbst hat Einschüchterungen von „mysteriösen Gestalten“ erfahren müssen; eines Morgens fand sie Einschusslöcher von einem Maschinengewehr an der Seite ihres Autos, mit dem sie ihre Tochter zur Schule fährt. Die Strategie derer, die an der Macht sind, ist immer die gleiche: alle Aktivisten, die Milagro nahe stehen, schwächen und zerstören, und im zweiten Schritt entweder bestechen oder durch Schikanen und Drohungen dazu zwingen, Dinge gegen die Leiterin von Tupac Amaru auszusagen; das sind Verfahrensweisen, die wir nur aus Filmen kennen, und die aber leider eine Kopie dessen sind, was tatsächlich aktuell in der Realität von Jujuy passiert.
Spät am Abend zum Abschluss des Tages ist ein Spaziergang in der Kühle der Nacht genau das richtige… In den nächsten Tagen werden wir Interviews mit anderen Aktivisten drehen sowie auch das Viertel besuchen, das das Pilotprojekt des Experimentes von Tupac Amaru in Alto Comedero ist, um zu erzählen, was geschehen ist und was momentan noch vom kooperativen und indigenen Projekt lebendig ist.
Fulvio Faro, San Salvador, 20. Januar 2017
Übersetzung aus dem Italienischen von Evelyn Rottengatter