Die italienische Redaktion von Pressenza fragte die Berliner Redaktion von Pressenza nach ihrer Sicht auf die Ereignisse des Anschlages auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz am 19.12.2016. Hier sind die Antworten der Redakteurin, Johanna Heuveling, die in Berlin geboren ist und hier seit 45 Jahren lebt.
Fühlt sich Berlin verletzt?
Ein bekannter deutscher Youtuber, Rayk Anders, hat eine Botschaft an den Attentäter formuliert, die, denke ich, ganz gut die Stimmung trifft, jedenfalls ging es im deutschsprachigen Raum gleich viral: „Du hast Dir die falsche Stadt ausgesucht. Berlin hat zwei Weltkriege in den Knochen […] dazu dann später noch Teilung der gesamten Stadt mit Todesstreifen und Scharfschützen. Du kannst in Berlin keine hundert Meter weit gehen, ohne an einem Denkmal für Krieg, Verfolgung und Tote vorbeizukommen. Diese Stadt kennt die Hölle. Und jetzt kommst Du mit Deinem verfickten LKW und denkst, dass Du die Leute hier aus der Bahn werfen kannst? […] Hast Du mal genauer hingeguckt? Du Genie hast genau den Weihnachtsmarkt angegriffen, auf dem eines der großartigsten Mahnmale für Frieden steht. Und alle, die jetzt diese Bilder sehen, werden sich daran erinnern, dass diese Stadt schon furchbares erlebt hat und weitergemacht hat. Und so wird es auch jetzt sein. Die Berliner werden frei sein. Sie werden lachen, sie werden feiern, sie werden trauern, aber sie werden frei sein.“
Das klingt sehr trotzig, aber so empfinden es, glaube ich, sehr viele Berliner. Berlin ist verletzt, aber nicht persönlich getroffen, denn den meisten war klar, dass früher oder später auch hier ein Anschlag passieren würde und wir kannten alle die Bilder von den Anschlägen in Paris und anderswo. Es war eine Frage der Zeit.
Wie habt ihr die Reaktionen der Menschen in Berlin auf das Attentat empfunden?
Ich war erstaunt, wie ruhig und besonnen die meisten Berliner reagierten. Natürlich bestürzt und traurig, aber es herrscht keine Panik oder übertriebene Angst und es sind auch nur selten Wutausbrüche und Hassparolen zu vernehmen. Natürlich gab es Stimmen aus der rechten Ecke, die sofort, noch ehe man überhaupt wusste, wer es gewesen ist, wieder auf die Flüchtlingspolitik und auf Merkel schimpften. Aber zu deren Kundgebungen kamen viel weniger als zu den Kundgebungen derer, die einfach trauern wollten und zeigen, dass wir uns keine Angst machen lassen und uns gegen Fremdenfeindlichkeit stellen.
Alle gingen weiter ihrer Arbeit nach, stiller als sonst, mit den Gedanken an das, was geschehen ist. Am übernächsten Tag machten die Weihnachtsmärkte wieder auf, auch der am Breitscheidplatz und viele gingen mit dem Gedanken hin „Jetzt erst recht“. Viele sagen, da kann man nicht viel dagegen machen. Es wird beinahe wie eine neue Form von Naturkatastrophe gesehen, wie Vulkanausbruch oder Erdbeben, die unerwartet hereinbrechen kann. Auch wenn natürlich zum jetzigen Zeitpunkt, wo es einen dringend Verdächtigen gibt, die Diskussion da ist, warum man ihn nicht im Vorfeld bereits abschieben konnte oder einsperren und die ganze Diskussion, was möglich und was legal ist und ob man Gesetze ändern muss oder mehr Leute einsetzen oder mehr Überwachung braucht. Aber eigentlich weiß jeder, dass es keinen vollkommenen Schutz gibt.
Ich bin sehr dankbar für diese Besonnenheit. Ich bin auch dankbar, dass bis auf die Rechten und einzelne Politiker der rechtskonservativen Partei, niemand voreilige Schlussfolgerungen gezogen hat. Diejenigen, die sofort mit Parteipolitik kamen, wurden schnell ausgebuht. Auch die Berichterstattung in den Medien (mit Ausnahme der Boulevardpresse) war zurückhaltend und betont Fakten und Mutmassungen trennend.
Ich glaube, wir Deutschen haben uns in den letzten Jahren sehr verändert, was unseren Blick auf die Welt betrifft. Wir sind sozusagen in der Realität dieser Welt angekommen. Während wir jahrzehntelang in einer relativ geschützten Oase gelebt haben und alles sehr weit weg war, was in der Welt an Kriegen und Elend vor sich ging, haben wir spätestens mit Eintreffen von einer Millionen Flüchtlinge gemerkt, dass wir in schlimmen Zeiten leben und sich vieles auch für uns ändern wird. Auch daher ist niemand wirklich sehr geschockt oder überrascht über den Anschlag.
Von weitem betrachtet erscheint die Rekonstruktion der Ereignisse sehr konfus zu verlaufen. Ist das auch Euer Eindruck?
Ich weiß es nicht. Es wurde erst ein falscher Tatverdächtiger eingesperrt, der dann gottseidank schnell wieder entlassen wurde als sich herausstellte, dass er nichts damit zu tun hatte. Die einzelnen Tatsachen kommen so nach und nach zum Vorschein. Jedesmal, wenn man das Radio anschaltet, ist wieder etwas Neues bekannt. Jetzt ist der Tatverdächtige gefunden und erschossen worden. Viele sagen, es ist sehr bedauerlich, dass er nicht mehr am Leben ist und so viele Fragen unbeantwortet bleiben. Eigentlich denke ich, ist das nicht so konfus. Es herrscht ein großer Aufklärungsdruck und von Seiten der Öffentlichkeit ein großer Informationshunger. Natürlich gibt es die Diskussion, warum der Tatverdächtige nicht vorher abgeschoben oder eingesperrt worden war, warum seine Überwachung eingestellt worden war. Man hat den Eindruck, verschiedene Behörden haben nicht gut miteinander kommuniziert. Das kennen wir auch schon von den NSU Morden, eine rechte Terroristengruppe, die gezielt Migranten ermordet hat, ohne dass die Behörden diese Taten in Zusammenhang gebracht hätten. Ich denke, das wird noch die nächsten Monate weiter diskutiert und verschiedene Personen werden sich noch verantworten müssen. Aber es wird auch davon geredet, wie unmöglich es ist, mit den vorhandenen Ressourcen und legalen Mitteln, alle sogenannten Gefährder, sie sprechen von über 500 in Deutschland bekannten, unter Kontrolle zu behalten.
Wie kann erneut Licht entstehen angesichts dieser scheinbaren Dunkelheit?
Das interessante, und das hat auch Berlin schon oft erfahren, ist, dass Licht vor allem erscheint, wenn Dunkelheit einbricht. Als ob man das gute und lichte erst wahrnimmt, wenn es sich vom üblen und dunklen absetzt. Das Licht erscheint in diesen Momenten, wenn Menschen zusammenkommen, singen, beten, gemeinsam trauern. An jedem Arbeitsplatz, an jeder Schule, in jeder Nachbarschaft, im Freundeskreis hat man geschaut: sind wir alle noch da? Geht es uns gut? Und man hat sich verbundenener gefühlt. Am Dienstag haben Berliner und Flüchtlinge am Breitscheidplatz gemeinsam gesungen „We are the world“. Solche Momente, in denen man sich gegenseitig des Menschseins versichert und Kraft gibt, über Religionen und Kulturen hinweg, und man erkennt, dass einen viel mehr verbindet als trennt, entstehen absurderweise, vor allem in Zeiten der Dunkelheit.