Ein Sturm der Entrüstung brach in Teilen der sozialen Netzwerke los, als bekannt wurde, dass Russland nicht mehr im UN-Menschenrechtsrat vertreten ist. Die Aufregung war überflüssig.
Bei einer Abstimmung in der UN-Vollversammlung über die Vergabe von zwei Sitzen in der Osteuropa-Gruppe erhielt Russland nur 112 Stimmen. Ungarn (144 Stimmen) und Kroatien (114 Stimmen) ließen die Föderation hinter sich und nehmen die freien Plätze im Rat ein.
Die Medien nahmen das Thema dankbar an und bauschten die Allerweltsabstimmung zu einer Staatsaffäre auf. Telepolis titelte: UN-Menschenrechtsrat: Russland ausgeschlossen, Saudi-Arabien gewählt. Zeit Online schrieb, Russland fliegt aus UN-Menschenrechtsrat und hob hervor, 80 Menschenrechts- und Hilfsorganisationen hätten im Vorfeld der Abstimmung gegen die Wiederwahl Russlands protestiert. N-TV berichtete von der Ohrfeige für Putin, die nicht richtig klatscht. In einer Meldung auf den Seiten des Informationszentrums der Vereinten Nationen für Westeuropa steht sachlich: „Russland hat seinen Sitz im Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen verloren.“
Öl ins geopolitische Feuer
Das Netz reagierte. Nicht wenige User kolportierten, es sei ein Komplott gegen Russland in Gange. Der Menschenrechtsrat ohne Russland: Die Empörung war groß, auch bei mir. Aber aus einem anderen Grund.
Gerade in der durch den Syrienkrieg angespannten internationalen Lage wäre es ein Zeichen der Annäherung und somit der Vernunft gewesen, Russland im Menschenrechtsrat zu halten. Außerdem täten die Medien gut daran, nicht bei jeder sich bietenden Gelegenheit, Öl ins geopolitische Feuer zu schütten.
Impulsiv und emotional, wie ich hin und wieder bin, feuerte ich auf Facebook einen deftigen Kommentar raus, in dem ich die Verlogenheit des Westens in Sachen Menschenrechte betonte und die Berichterstattung der Medien tadelte.
Wo ist der Aufreger?
Der Post fand schnell Abnehmer. Er wurde binnen weniger Minuten 58-mal geteilt. Beflügelt durch den Zuspruch und angetrieben durch das kochende andalusische Blut in meinen Adern, haute ich in die Tastatur des Laptops, bemüht einen neuen Artikel zu verfassen, um diesen Skandal, ein Menschenrechtsrat ohne die Russen, in Buchstaben zu meißeln.
Mein Elan erhielt durch das Neue Debatte Team einen Dämpfer. Gunther Sosna bemerkte leidenschaftslos: „Wo ist der Aufreger?“ Wo ist der …? Bahnte sich da etwa ein Disput an?
Ich sage immer, ich bin kein Putinversteher, aber in diesem Fall schlug ich mich wie selbstverständlich auf die Seite des Russen. Ich erwiderte, dass es nicht angehen könne, dass der Schlächterstaat Saudi-Arabien einen Sitz im Rat innehat, aber die Russische Föderation vor der Tür bleiben muss. Das Echo kam prompt: „Dann befindet sich der Russe ja nicht mehr in schlechter Gesellschaft.“ Wie bitte …?!
Ich habe die Geschichte sacken lassen und dann angefangen, Fakten über den Menschenrechtsrat zu sammeln, den bis vor wenigen Tagen wohl kaum ein Normalbürger gekannt haben dürfte. Das Ergebnis ist ernüchternd.
Schmutzige Hände und weiße Westen
Der Menschenrechtsrat, der im Juni 2006 die UN-Menschenrechtskommission ablöste, ist ein Unterorgan der UN-Generalversammlung. Ihm gehören 47 Staaten an. Seine Ziele und Aufgaben sind in der Resolution 60/251 beschrieben.
Hauptaugenmerk liegt auf der Unterstützung der Mitgliedstaaten bei der Einhaltung ihrer Menschenrechtsverpflichtungen. Dafür kann der Rat die Entsendung von Beobachtern zur Überwachung der Menschenrechtssituation in einem Mitgliedstaat beschließen.
Wer sich die noch junge Geschichte des UNHRC anschaut, der erkennt, dass sich der Rat einer recht hohen Fluktuation erfreut. Russland war eine Ausnahme. Seit der Gründung des UNHRC war man Mitglied des Gremiums.
Ansonsten geben sich im UNHRC die Nationen die Klinke in die Hand. Eine ist dabei ungewaschener als die andere. Zwar verpflichten sich alle Bewerber zur Förderung und Einhaltung der Menschenrechte, aber die Realität zeichnet wie so oft ein weniger pinkfarbenes Bild. Nicht von ungefähr ist der Rat wegen seiner Zusammensetzung umstritten.
Unter den Mitgliedern befinden sich Länder, über die Amnesty International Berichte abliefert, die jedem Humanisten den Angstschweiß ins Gesicht treiben. Kaum einer hat eine weiße Weste.
- China: Todesstrafen sind in an der Tagesordnung und in den Gefängnissen wird immer noch gefoltert. Die Meinungsfreiheit ist stark eingeschränkt und Minderheiten wie Uiguren und Tibeter werden diskriminiert.
- Katar: Die freie Meinungsäußerung ist eingeschränkt, Frauen haben kaum Rechte, und Arbeitsmigranten werden ausgebeutet und teilweise, wie Sklaven behandelt.
- Nigeria: Das Land ist durch den Kampf gegen Boko Haram von Gewalt geprägt. Bei der Bekämpfung der Terrororganisation begingen Regierungstruppen allerdings schwere Menschenrechtsverletzungen.
- Indien: Menschrechtsaktivisten werden willkürlich festgenommen und inhaftiert. Gewalt gegen Frauen ist an der Tagesordnung und es gibt Fälle von außergerichtlichen Hinrichtungen.
- Albanien: Der Staat übt massiven Druck auf Journalisten aus und schränkt dadurch die Meinungsfreiheit eine. Es gibt unzählige Fälle von häuslicher Gewalt gegen Frauen und Mädchen. Minderheiten wie Roma und Balkanägypter werden diskriminiert.
- El Salvador: 2015 wurden 475 Frauen ermordet. Menschenrechtsverteidiger werden stigmatisiert und Verbrechen aus der Vergangenheit strafrechtlich nicht verfolgt.
- Lettland: In dem EU-Mitgliedsstaat sind die Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgeschlechtlichen und Intersexuellen stark eingeschränkt. Staatenlose werden offen diskriminiert und es wird kaum Asyl gewährt.
Das ist nur ein Ausschnitt der Mitglieder im Menschenrechtsrat. Jedes Land verstößt mehr oder weniger gezielt gegen die Menschenrechte oder lässt eine Verletzung zu.
Auch in Russland wird massiv gegen die Menschenrechte verstoßen, wie dem Amnesty International Report 2016 zu entnehmen ist.
Die USA, deren Regierungen immer wieder rigoros auf die Einhaltung der Menschenrechte in anderen Nationen pochen, haben im eigenen Land schwere Verstöße gegen die Menschenrechte zu verbuchen.
Irgendwie hat jede Nation Dreck am Stecken. Selbst Deutschland, für die der Diplomat Joachim Rücker den Vorsitz im Menschenrechtsrat ausübt, wird von Amnesty kein überwältigendes Zeugnis ausgestellt.
Barbarei im Toleranzbereich
Mir stellt sich nach all diesen Informationen die Frage, ob es überhaupt erstrebenswert sein kann, diesem Rat anzugehören, in dem so viele Staaten vertreten sind, in denen Menschenrechtsverletzungen zum Alltag gehören.
Bei eklatanten Verstößen können die Mitglieder ausgeschlossen werden, das ist wahr. Doch was ist eklatant? In Saudi-Arabien werden Menschen für Nichtigkeiten ausgepeitscht und verlieren bei leichten Delikten Hände oder Füße und bei schweren Taten durch das Schwert des Scharfrichters den Kopf.
Das ist barbarisch, aber offenbar im Rahmen der Toleranz, sonst wäre Saudi-Arabien nicht erneut in den Rat gewählt worden. Dieser Umstand hat kaum Erwähnung in den Medien gefunden.
Für Russland und seinen Präsident Vladimir Putin ist es aus dieser Perspektive sicher keine Katastrophe, den erlauchten Kreis der Menschenrechtsverletzer verlassen zu haben.
Wäre der Menschenrechtsrat ein Orchester, würden dem Dirigenten die Misstöne aus der russischen Ecke ohnehin nicht auffallen. Zu grauenhaft schräg klingt das Staccato, kaum ein Ton wird sauber getroffen. Die Empörung kann also getrost abklingen – sie war überflüssig.
von Jairo Gomez für Neue Debatte
Seit 1967 lebt der im spanischen Granada geborene Bernardo Jairo Gomez Garcia in Deutschland. Schon vor seinen Ausbildungen zum Trockenbaumonteur und Kfz-Lackierer entdeckte Gomez seine Leidenschaft für die Kunst. Er studierte an einer privaten Kunsthochschule Airbrushdesign und wechselte aus der Fabrikhalle ans Lehrerpult. 14 Jahre war Gomez als Spanischlehrer in der Erwachsenenbildung tätig. Seine Interessen gelten der Politik, Geschichte, Literatur und Malerei. Für Neue Debatte schreibt Jairo Gomez über die politischen Entwicklungen in Spanien und Lateinamerika und wirft einen kritischen Blick auf die gesellschaftlichen Veränderungen in Deutschland und Europa.