„Forscher liefern Beweise: Aborigines sind Ureinwohner Australiens“, „Streit offenbar beendet: Aborigines sind Australiens Ureinwohner“, titelten deutsche Zeitungen am 7. Juni 2016. Bis vor wenigen Monaten nahmen Wissenschaftler noch an, dass Aboriginal People Nachfahren einer ausgestorbenen Menschenart waren. Man könnte fast lachen, wenn die Denkweise, die hinter diesen Nachrichten steckt, nicht so traurig wäre. Wenn Aboriginal People gefragt werden, woher sie kommen, sagen sie: „Wir waren schon immer hier“.

Das Wissen und die Weisheit indigener Völker werden von der westlichen Wissenschaft nicht anerkannt. Nur Weiße bestimmen in unserer Welt, was wahr ist und was nicht und können so, bis „unumstößliche“ Beweise geliefert werden, ganze Völker unsichtbar machen und deren Rechte aberkennen. Erst wenn Weiße etwas „entdecken“, das andere schon längst kennen, wird es Realität und wird Teil der „offiziellen“ Menschheitsgeschichte. Vor allem auf dem australischen Kontinent ist diese Denkweise für die dort lebenden Völker verheerend gewesen. Sie machte das Land mit einem Schlag zu einem weißen Fleck auf der Karte, zu einem leeren, unbewohnten Kontinent (Terra Nullius), der einfach in Besitz genommen werden konnte. Jetzt, wo Wissenschaftler nachgewiesen haben, was Aboriginal People schon immer gewusst haben, sollte man aber nicht glauben, dass dies etwas ändern wird. Die Historikerin Dr. Victoria Grieves von der Nation der Warraimay schreibt, dass die heutigen Machtverhältnisse in Australien nicht auf einem Missverständnis beruhen, sondern weil herrschaftliche Strukturen geschaffen wurden, in denen es keinerlei Raum für die Denk- und Lebensweise der Aboriginal People gibt.

„Wir waren schon immer hier“, geben sie seit Generationen an ihre Nachkommen weiter. Ihre Überzeugung gründet nicht auf einer Wissenschaft, sondern auf der Mythologie der Traumzeit. Die Anangu in den Wüstengebieten Zentral- und Westaustraliens nennen diese Schöpfungsgeschichte Tjukurpa. Ihr zufolge hatten übernatürliche Wesen das Land beschritten, bevor sie sich, von den langen Wanderungen ermüdet, in die Erde zurückzogen. Dabei nahmen sie die Form eines Bergs, einer Quelle oder eines Baumes an. Ein Beispiel ist die Regenbogenschlange, die durch die Landschaft glitt und so die Flüsse formte. Aus Sicht der Warumungu, die auch in Zentralaustralien leben, sind die Eier dieses Schöpfungswesens noch immer zu sehen. Es sind die Devils Marbels (Murmeln des Teufels), große kugelförmige Felsen, die sich 100 Kilometer südlich von Tennant Creek im Northern Territory befinden. Die Warumungu nennen sie Karlu Karlu.

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Sonnenuntergang in einer kleinen Aboriginal-Gemeinde in Maningrida/Northern Territory. (Foto: Emily Hanna via Flickr)

Vor dem Eintreffen der Europäer lebten schätzungsweise 300.000 Menschen auf dem Kontinent, verteilt auf etwa 500 Sprachgruppen. Eine Sprachgruppe, auch Nation* genannt, ist eine Gruppe von Menschen mit der gleichen Sprache, die nach den gleichen Gesetzen und Regeln lebt, so wie die Yolngu im Nordosten von Arnhemland: Sie sprechen eine Sprache aus der Sprachgruppe Yolngu Matha und besitzen ein gemeinsames Rechtssystem, das Madayin. Durch die Kolonialisierung wurden viele Sprachgruppen vernichtet und die sozial-gesellschaftlichen Strukturen überlebender Nationen ernsthaft gefährdet. Trotz dieser radikalen Veränderungen hat der „Westen“ noch immer eine romantische Vorstellung von den Aboriginal People als Jäger und Sammler. Diese Auffassung ist jedoch falsch. Es gibt mittlerweile genügend Hinweise, dass Aboriginal People sehr wohl Häuser gebaut und Landwirtschaft betrieben haben. Zudem leben etwa 80 Prozent nicht im Outback, sondern in den Städten. In Australien gibt es insgesamt 700.000 Aboriginal People, die drei Prozent der Bevölkerung ausmachen.

Die soziale Struktur ist bei den Aboriginal People komplex. Jede Nation besteht aus mehreren Clans. Das sind Gruppen von 40 bis 50 Menschen, die nicht nur das gleiche Totem haben, sondern auch in einem Gebiet leben. Innerhalb eines Clans leben mehrere Familien. Genau, wie jeder Clan sein eigenes Totem hat, fühlt sich auch jede Person, jede Familiengruppe und jede Nation einem Totem zugehörig. Ein Totem kann eine Pflanze, ein Tier oder auch ein Stein sein, mit dessen Charaktereigenschaften sich die jeweilige Gruppe identifiziert. Das Totem des inzwischen auch in Europa bekannten Yolngu-Sängers Geoffrey Gurrumul Yunupingu ist zum Beispiel Baru, das Salzwasserkrokodil.

Wie wichtig Totems für Aboriginal People sind, zeigte sich 2011 bei einer Aufsehen erregenden Auktion in Großbritannien, auf der ein Tjuringa-Stein verkauft werden sollte. Bei dem Stein handelt es sich um ein Totem, zu dem nur senior elders (die Ältesten) Zugang hatten, bevor er gestohlen und verkauft wurde. Australische Museen, die sich aus Respekt vor den traditionellen Gesetzen weigern, solche Objekte auszustellen, reagierten empört. Die Auktion wurde verschiedenen Berichterstattungen zufolge abgesagt.

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Die kugelförmigen Felsen Karlu Karlu im Northern Territory, die auch Murmeln des Teufels genannt werden, spielen in der Schöpfungsgeschichte der Warumungu eine wichtige Rolle. (Foto: BRJ INC. via Flickr)

Auch das Verwandtschaftssystem ist nicht weniger kompliziert. Grundlage des Systems ist die Annahme, dass alle Menschen, Tiere, Pflanzen und Gegenstände im Universum in zwei sich ergänzende Gruppen aufgeteilt sind, die sogenannten Moieties. Dieses Prinzip gibt es bei den meisten Nationen. Bei den Yolngu etwa heißen die Moieties heißen Yirritja und Dhuwa. Jeder Mensch wird in eine Moiety hineingeboren und gehört ihr sein Leben lang an. Sie bestimmt, wen man heiraten darf; innerhalb einer Moiety zu heiraten ist immer noch tabu. Mit diesem System wird im Wesentlichen Inzucht verhindert. Aboriginal People sind auch durch Verwandtschaft (kinship) miteinander verbunden. Aber anders als in Europa können solche Begriffe wie Mutter oder Vater auch für andere Verwandte verwendet werden. So kann etwa ein Kind den Bruder seines biologischen Vaters manchmal auch Vater nennen. Und eine Frau, mit der keine biologische Verwandtschaft besteht, kann manchmal Tante von jemandem sein.

Die ersten Europäer, die den Fuß auf australischen Boden setzten, erkannten diese vielschichtige soziale Struktur und die damit verbundene Vielfalt nicht. Für sie waren die Bewohner des Kontinents eine homogene Gruppe, die sie „Aborigines“ nannten, ein Wort, das sich von dem Lateinischen „ab origine“ („von Ursprung“) ableitet. In Australien wird dieser Begriff oft als geringschätzig empfunden und daher besser vermieden. Vielmehr wird der Begriff Aboriginal People bevorzugt, oder die Namen, die sich Aboriginal People in einem bestimmten Gebiet selbst gegeben haben, wie Murri (Nordost-Australien), Koori (Südost-Australien), Palawa (Tasmanien) oder Nyungar (West-Australien).

In den Gemeinschaften, deren gesellschaftliche Strukturen noch zum Teil intakt sind, nennen sich Menschen nach der Zugehörigkeit zu einem Clan, Totem und/oder Skin. Wenn sie sich vorstellt, zählt die Yolngu-Lehrerin Yalmay Yunupingu beispielsweise auf, dass ihr Skin Gamanydjan, ihr Clanname Rirratjinu und sie von der Moiety Dhuwa ist. Aber auch die Menschen, die einen Artikel für diese Ausgabe geschrieben haben, sehen sich selbst nicht an erster Stelle als Aboriginal, sondern als Nyikina (Sam Cook), Warraimay (Victoria Grieves) oder Yawuru (Michael Jalaru Torres). Es ist wichtig zu erkennen, dass Aboriginal-Gesellschaften genauso wenig statische und homogene Einheiten sind wie andere Gesellschaften, sondern sich ständig ändern und immer in Bewegung sind.
Noch immer etwas verwirrt über das Verwandtschaftssystem der Aboriginal People? Keine Sorge, uns ging es genauso. Deswegen haben wir lange recherchiert und anschließend dieses Erklärvideo produziert.

Von Marion Caris und übersetzt aus dem Niederländischen von Kathrin Bunge

Marion Caris arbeitet als freiberufliche Übersetzerin in Berlin. Sie hat Verwandte in Australien und schon früh wurde ihr Interesse für den fünften Kontinent geweckt. Sie hat das Land mehrfach bereist und setzt sich mit der Position der Aboriginal People, mit denen sie gut vernetzt ist, auseinander.

Die aktuelle Ausgabe der Zeitschrift „bedrohte Völker – pogrom“ trägt den Titel „Wir waren schon immer hier“. Geschichten, die erzählt werden müssen. Wir veröffentlichen ausgewählte Artikel zum „Hineinschnuppern“. Das vollständige Magazin gibt es im Online-Shop der GfbV.


* Nationen werden in der Literatur häufig noch „Stämme“ genannt. Das Wort „Stamm“ sollte allerdings vermieden werden, weil darin seit Beginn der Kolonialzeit die Abwesenheit von „Zivilisation“ mitgedacht wird.