Während der Konferenz zur Utopie im Monastero del Bene Comune in Sezano bei Verona, Italien, haben wir den bekannten deutschen Friedensaktivisten Jürgen Grässlin getroffen und interviewt.
Grässlin, Experte für Waffenhandel, der bereits während des Deutsche Welle Global Media Forums 2016 und zuletzt auch anlässlich des International Peace Bureau Congress mit Pressenza zusammengearbeitet hat, erinnert uns an die Notwendigkeit von Frieden. Seiner Meinung nach müssen wir alle zusammen eine Welt ohne Waffen, Militär und Gewalt anstreben, Schritt für Schritt und damit beginnend, ein Netzwerk aller Menschen zu schaffen, die sich für eine bessere Zukunft engagieren.
Wir haben auch über Grässlins Recherchen zu deutschen und europäischen Waffenexporten gesprochen, einem massivem Geschäft, das Millionen vom Opfer überall auf der Welt fordert. Deutschland, Italien, USA und Russland sind die hauptsächlich in Waffenhandel involvierten Länder, der nur allzu oft über die Grenzen internationaler Abkommen hinaus geht.
Jürgen Grässlin und die Antikriegskampagne „Aktion Aufschrei“ engagieren sich dafür, diese Art von Kriminalität anzuklagen, indem sie Stimmen von Opfern nach Deutschland bringen und gewaltfreie Aktionen gegen die Aggressoren, also gegen Waffenproduzenten und politische Institutionen, die diese unterstützen, realisieren.
Eine kürzliche Umfrage des TNS Enmid (Februar 2016) ergab, dass um die 83 % aller Deutschen gegen Waffenexporte sind und dasselbe gilt wahrscheinlich auch für den Großteil der Menschen in Europa und darüber hinaus. Es ist an der Zeit, alle diese Stimmen zu vereinen, sagt Grässlin, und zusammen daran zu arbeiten, die Utopie Frieden in die Tat umzusetzen.
Transkript des Interviews:
Glauben Sie, das Frieden eine Utopie ist?
Frieden ist keine Utopie, Frieden ist eine Notwendigkeit. Wenn wir keinen Frieden haben, dann haben wir Kriege. Schauen Sie sich die Kriege an, in Afghanistan, im Irak, in Libyen, in Syrien und so weiter. Kriege sind zerstörerisch, Kriege töten Millionen von Menschen. Während meiner Recherche zu deutschen Waffen war ich in vielen solcher Länder. Ich habe hunderte von Menschen getroffen und mit ihnen gesprochen, was passiert, wenn – wie in diesen Fall – deutsche Waffen in diese Länder geliefert werden, in die Hände von Diktaturen, die die Waffen dann gegen die Bevölkerung in diesen Ländern einsetzen. Was ich gesehen habe, sind hunderte von Menschen, die traumatisiert sind, sie sind alle traumatisiert, dies ist nur ein Beispiel pars pro toto. Es gibt Millionen von Menschen, die traumatisiert sind. Deshalb, wenn Krieg nicht beendet wird und wenn Frieden nicht kommt, dann wird die Welt zerstört. Wir brauchen die Utopie des Friedens, wir müssen die Utopie des Friedens Schritt für Schritt in die Tat umsetzen. Schritt für Schritt bedeutet, dass man keine Schalter umlegen kann und dann wird die Welt ein besserer Ort, sondern wir brauchen viele Menschen, die für Frieden arbeiten, die für Gerechtigkeit arbeiten, für eine ökologisch intakte Welt und das, was wir tun müssen, ist ein großes Netzwerk in der ganzen Welt aufzubauen. Ich alleine bin nicht stark genug, Sie alleine sind nicht stark genug, wir alle sind nicht stark genug. Da sind unsere Organisationen, ich spreche für die größte Friedensorganisation in Deutschland, weil ich ihr Pressesprecher bin… aber es ist nicht genug. Wir müssen ein Netzwerk für Frieden und Gerechtigkeit aufbauen, und dieser Ort, dieses Kloster, ist ein sehr guter Ort, um diese Idee der Utopie zu initialisieren. Es ist ein Zeichen, das wir in die Welt senden können. All die Menschen hier aus Italien und anderen Ländern können nach Hause gehen und die Idee von Utopia weitererzählen. Vielleicht ist dies ein Anfang. Um auf Ihre Frage zurückzukommen, Utopie sollte nicht nur eine Idee von Leuten sein, die ganz weit weg ist, wo wir sagen, wir können gar nichts machen, sondern Utopie muss in die Tat umgesetzt werden, Utopie muss Realität werden.
Kann Gewaltfreiheit das Engagement für Frieden und Abrüstung stärken?
Es gab eine Umfrage in Deutschland, bei der die Leute gefragt wurden, akzeptieren Sie Waffenexporte in andere Länder? Und 83 % sagten „Stoppt Waffenexporte“. 83%! In Deutschland gibt es 80 Millionen Menschen, das heißt also 50 oder 60 Millionen Menschen wollen keine Waffenexporte, weil sie wissen, was mit diesen Waffen in anderen Länder gemacht wird. Wir haben auch die Bilder dazu, wir zeigen sie, wir geben den Opfern eine Stimme, wir laden Sie ein, nach Deutschland zu kommen und zu erzählen, was passiert, wenn wir Waffen liefern, wenn die deutsche Regierung oder die Waffenindustrie Waffen liefert. Es gibt also viele Leute, wir sind die Mehrheit. Das Problem ist, dass die Leute sagen, macht ihr das für uns und dann sage ich nein, wir müssen das zusammen machen. Wir müssen alle auf die Straße gehen, vor Firmen wie Heckler & Koch oder andere. Hier in Italien gibt es Beretta, die Kleinwaffen liefern und Kleinwaffen sind die tödlichsten. Menschen in Kriegen und Bürgerkriegen sterben durch Kleinwaffen und Gewehre. Und Heckler & Koch und Beretta sind Nummer zwei und Nummer drei in der Welt. Stellen Sie sich also vor, eine Menge des Tötens überall auf der Welt kommt aus Deutschland und Italien. Tod kommt aus Deutschland und Italien in die Welt und wir müssen das stoppen. Und wir sind die Mehrheit. Aber wie bringen wir die Menschen in einer gewaltfreien Aktion vor die Zentrale von Heckler & Koch und Beretta, das ist die Frage.
Sie sind direkt in diese Länder gegangen und haben die Opfer deutscher Waffen besucht. Was können Sie uns darüber berichten und was haben Sie daraus gelernt?
Über das Schicksal dieser Menschen, über das Leben dieser Menschen, über die Zerstörung, die diese Waffenexporte verursachen, wobei es keinen Unterschied macht, ob sie von Heckler & Koch oder Beretta kommen, oder russische oder amerikanische Waffen sind, es ist immer das gleiche Ergebnis. Menschenleben werden zerstört, Familien werden zerstört, Traumatisierung ist kein besonderer Einzelfall in einer Familie, sie ist überall. Und dann habe ich mir gesagt, für den Rest meines Lebens will ich den Opfern eine Stimme geben. Vielleicht werden einige von ihnen nach Deutschland kommen, um über ihr Leben und die Zerstörung ihres Lebens zu sprechen. Aber es ist nicht genug, man bräuchte auch ärztliche Hilfe. Zum Beispiel gibt es in unserer Kampagne „Stoppt den Waffenhandel – Aktion Aufschrei“ die Organisation IPPNW (Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges – Ärzte in sozialer Verantwortung e.V.), einer Gruppe von Ärzten, die 1993 den Friedensnobelpreis erhalten haben, die aus diesen Ländern kommen und erzählen, was dort geschieht. Einer der Ärzte kommt aus Kenia, er erzählte uns, dass seine Arbeit darin besteht, jeden Tag sechs Kinder zu operieren, und er beschrieb im Detail den Effekt der Munition, wenn sie auf den Körper trifft. Er zeigte uns Bilder eines Mädchens, die den gesamten unteren Gesichtsbereich verloren hatte, kein Wangen, keine Zähne mehr, nur ein riesiges Loch durch eine einzige Kugel. Er implantierte Metallplatten und restrukturierte die Knochen, in sechs oder sieben Operationen. Dann gibt es eine neue Phase, in der das junge Mädchen, obwohl ihr Mund zu breit ist, wieder lächelt. So etwas kostet 5.000, 6.000 , vielleicht 10.000 Dollars, um diesem Mädchen ein Leben zu ermöglichen. Was wir also tun können, ist diesen Opfern ein Stimme zu geben und zu sagen: Stoppt Waffenexporte. Sie sind kriminell, ob sie nun legalisiert sind oder nicht, sie sind kriminell gegen die Menschen. Und meine Utopie hier bei dieser Konferenz ist, mit meinem Leben, mit unseren Leben – wir sind hunderte von Organisationen bei der Aktion Aufschrei in Deutschland – zu sagen „Stoppt Waffenhandel“. Viele kommen aus der Friedensbewegung, aus der Bewegung für Menschenrechte, von der evangelischen und katholischen Kirche, und sie alle sagen: Stoppt Waffenexporte, wir sind die 83% in Deutschland. Meine Utopie ist, dass wir Schritt für Schritt diesem Ziel näher kommen und es in die Tat umzusetzen, und ich glaube, das schaffen wir auch. Aber das Problem ist, das geht nicht in einem oder zwei Jahren. Wir müssen die richtigen Schritte finden und die richtigen Friedensaktionen, gewaltfreie Aktionen gegen diese Unternehmen, gegen die Politiker, die diese Art von Politik erlauben. Was ich nach 30 Jahren Arbeit gegen Heckler & Koch und solche Unternehmen sagen kann, ich habe auch viele Bücher über andere Unternehmen in Deutschland geschrieben, über die Politiker und die Lobbyorganisationen für das Militär, um Licht in dieses dunkle Geschäft zu bringen, was ich sagen kann, ist, dass wir schon drei bis vier große Schritte in diesen 30 Jahren geschafft haben.
Sie engagieren sich persönlich gegen das Geschäft mit Waffen. Können Sie uns etwas über Ihre Aktionen und Klagen erzählen?
Meine erste Klagen gegen Heckler & Koch reichte ich in 2010 eine. Ein Whistleblower kam 2009 zu mir, er weinte am Telefon und sagte mir „ich war Mitglied von Heckler & Koch und ich war in Mexiko und was wir da tun ist ein krimineller Akt, weil wir Gewehre liefern, vom Typ G36, das modernste von Heckler & Koch, in Regionen wo es laut deutschem Gesetzt nicht erlaubt ist“. Aber die Politiker sagten, Mexiko sei sicher – und das an sich ist verrückt – aber in vier Regionen ist es nicht erlaubt. Dennoch liefert Heckler & Koch die Hälfte der Waffen genau in diese Regionen. Dieser Mann sagte das also und ich fragte mich, ist das wahr? Wir trafen uns mehrmals und er sagte, er ist Christ, er wolle nicht mehr lügen, er wolle kein Straftaten mehr begehen und er verließ Heckler & Koch. Er gab mir eine Menge Dokumente, Videos, Dias und Fotos und ich glaubte ihm. Ich reichte also Klage ein, zusammen mit meinem Anwalt Holger Rothbauer, der im Bereich Waffenhandel spezialisiert ist. Wir haben viel Erfolg in den Gerichten zusammen mit Holger. Die erste Klage war also in 2010 und Holger erweiterte sie 2012 gegen das Wirtschaftsministerium, weil sie in diesen Fall involviert waren. Wir haben die Dokumente dazu, die das belegen, auch Belege von Telefonaten, Emails und so weiter, viele viele Dokumente. Es gibt Beweise, das nicht nur Heckler & Koch daran interessiert war, Waffen nach Mexiko zu liefern, auch die Institutionen, die Ministerien haben Interesse daran, um die Waffenindustrie zu unterstützen. Es ist sehr interessant, was dann geschah.. Es dauerte fünft Jahre, bis der Staatsanwalt in Stuttgart „aufwachte“. Wir organisierten viele Friedensaktionen in Mexiko, zusammen mit den Opfern dort, es gab auch eine Aktion vor der Staatsanwaltschaft in Stuttgart, aber das war noch nicht genug. Wir publizierten ein Buch mit all den relevanten Dokumenten und es war immer noch nicht genug. Dann traf ich mich mit einem Filmemacher, dem bekanntesten Filmemacher zum Thema Waffenexporte in Deutschland, Daniel Harrich. Er ging mit einem Team von Schauspielern nach Mexiko und drehte einen Spielfilm und auch einen Dokumentarfilm. Wir hatten die Unterstützung der ARD. Beide Filme wurden zur Hauptsendezeit abends gesendet, sie liefen insgesamt drei Stunden, und wir hatten 6 Millionen Besucher in Deutschland für diese Filme. Und dann sagte der Staatsanwalt, jetzt wird es schwierig, jetzt wissen alle davon. Und so wurden zu meiner Klage schließlich sechs Manager von Heckler & Koch vor Gericht geladen. Wir werden sehen, was dann vor Gericht passiert, wenn es zur Verhandlung im Januar / Februar 2017 kommt. Das wird sehr interessant, denn zwei der sechs sind Topmanager bei Heckler & Koch und ich finde, sie sollten ins Gefängnis gehen, denn das deutsch Recht ist dahingehend sehr sehr klar, es sieht ein Minimum von zwei Jahren Gefängnis vor. Aber Gerichte sind unsichere Orte und die Gerechtigkeit ist nicht notwendigerweise auf unserer Seite, aber es ist ein weiterer Schritt. Und nun haben wir eine wichtige Kehrwende gemacht. Für viele Jahre und Jahrzehnte sagte man bei den Friedensbewegungen, passt auf, die ist eine gefährliche Arbeit. Und jetzt sagen die Manager, passt auf, es ist gefährlich, exportiert nicht illegal, die Friedensbewegungen könnten es herausfinden und jetzt gibt jetzt Whistleblowers. Es ist eine neue Situation. Und ich wage zu sagen, wir sind an einem Punkt angekommen, wo es nicht nur Heckler & Koch sind, sondern auch SIG Sauer und Carl Walther, wir haben viele Klagen eingereicht, acht an der Zahl damals. Also lasst uns in dieser Richtung weitermachen. Das ist ein Beispiel für einen Schritt, es gibt noch viele weitere Schritte. Die Utopie ist vielleicht noch weit entfernt, aber man kann viele Schritte unternehmen, um ihr näher zu kommen und sie in die Tat umzusetzen. Vielleicht werde ich es nicht mehr erleben, dass es keine Waffen und Militär mehr in dieser Welt gibt, nicht zu meiner Lebenszeit. Aber andere jungen Leute müssen den Weg weiter gehen, unsere Kinder müssen den Weg weitergehen. Vielleicht wird es in 50 Jahren geschehen, vielleicht in 100 Jahren. Wir müssen Krieg abschaffen, wir müssen Krieg ein für alle mal beenden. Krieg ist so verrückt und zerstörerisch, wir brauchen ihn nicht. Was wir brauchen ist die Utopie: eine Welt der Gerechtigkeit, eine Welt des Friedens, eine Welt voller gesunder Menschen, voller gebildeter Menschen, eine Welt der Liebe kann man sagen. Wir brauchen diese Militärs nicht, wir brauchen diese Waffenindustrie nicht. Und wir arbeiten alle zusammen, als ein Netzwerk, das ist wichtig für mich, überall auf der Welt gegen diesen Wahnsinn des Militärs. Ich bin also ein Doktor gegen diesen Wahnsinn des Militärs.
Interview von Domenico Musella
Video von Dario Lo Sclazo
Übersetzung von Evelyn Rottengatter