Mohammed Darawshe ist eine arabischer Israeli, der über die Schizophrenie, als ein arabischer Bürger in einem jüdischen Staat zu leben, berichtet. Er ist Direktor des Shared Society Programmes von Givat Haviva, einem Jüdisch-Arabischen Friedenszentrum in Israel, und er ist für sechs Monate in Berlin als Fellow der Robert-Bosch Stiftung. Wir trafen ihn bei einer Veranstaltung, organisiert von Friedel Grützmacher, Vorstandsvorsitzende des Deutschen Freundeskreises Givat Haviva, wo er über sein persönliches Leben und über seinen Einsatz als Politologe, eine friedliche Lösung für alle Mitglieder der israelischen Gesellschaft zu entwickeln, erzählte.
Weit davon entfernt deprimiert zu wirken, erzählt Mohammad Darawshe auf sehr lebendige, manchmal sogar humorvolle Weise über die Diskrepanzen, die sein Leben ausmachen. Seine Familie lebt seit 28 Generationen, 800 Jahren in Iqsal, einer kleinen Stadt in Nord-Israel. „Heimat, so wie es mein Großvater definierte, ist, wo Du Deinen Olivenhain und Deine Grabstätte kennst“, sagt Darawshe.
Der Staat Israel sei gegründet worden als Staat der Juden, was sich auch in den nationalen Symbolen – der Hymne, die von der „jüdischen Seele“ und der Flagge mit dem Davidstern – ausdrücke. Was bedeutet das für die arabische Bevölkerung, die in Israel lebt? „Im bürokratischen Sinne waren wir Bürger von Israel. Aber im politischen Sinne waren wir Waisenkinder“, sagt Darawshe. Bis 1966 lebte die arabische Bevölkerung innerhalb des israelischen Territoriums unter Militärverwaltung. „Ein anderes Wort für Besetzung.“ Man habe sie als Sicherheitsgefahr und als Problem betrachtet. Trotzdem entschieden sich 99% der arabischen Bevölkerung zu bleiben, da die Option, ein Flüchtling in den benachbarten Ländern zu werden, wie Darawshe häufig wiederholt, niemals sehr attraktiv gewesen sei. Inzwischen habe sich erwiesen, dass dies eine weise Entscheidung gewesen sei, in Anbetracht der erbärmlichen Bedingungen, unter denen palästinensische Flüchtlinge bis heute in arabischen Ländern lebten. „Die arabischen Länder boten uns keine wirkliche Alternative. Sie konnten die Situation nicht meistern. Sie können kaum ihre eigene Situation meistern.“ Die Folge war allerdings, sagt er, dass die arabischen Israelis von den Palästinensern ausserhalb Israels als Verräter angesehen wurden.
In einer Demokratie geht es vor allem um Gleichberechtigung
Im Jahr 1966 endete die Militärverwaltung und es begann eine “fantastische Zeit”, wie Darawshe sie nennt: „Der Staat Israel adoptierte die Waisenkinder und dies ging einher mit einem Willkommens-Paket.“ Dieses Paket enthielt Modernisierungsprogramme, die das Prosperieren der arabischen Gemeinden ermöglichte und unter anderem auch den Anstieg des Bildungsniveaus. Eine gebildete Elite sei so entstanden, die ihre Situation nicht länger mit der Situation der Palästinenser ausserhalb der Grenzen Israels verglichen habe, sondern mit der Situation der jüdischen Bevölkerung Israels. Es sei eine Zeit der „Israelisierung“ gewesen.
Auch Mohammad Darawshe studierte Politologie: “Wir lernten, dass es bei der Demokratie – und Israel bezeichnete sich selbst als demokratischen Staat – vor allem um Gleichberechtigung geht. Aber wir waren keine gleichberechtigten Bürger. Daher fingen wir an, politische Gleichberechtigung zu fordern.“ 1976 organisierten arabische Aktivisten einen Protest – die Land Day (zu deutsch: Tag des Bodens) Demonstration. „90% unseres Landes waren von Israel konfisziert worden. Eine Bevölkerung von 21% besaß nur 2,5% des Landes.“ Die Land Day Proteste forderten eine gleiche Verteilung des Landes. Land, so Darawshe, sei überlebenswichtig für die arabische Bevölkerung, da die meisten von Landwirtschaft lebten. Aber Land bedeute auch Würde und Entwicklung. „Wegen der Beschränkungen konnten unsere Gemeinden sich nicht entwickeln. Sie entwickelten sich nach innen, nicht nach aussen. Dieselbe Infrastruktur, die früher 1000 Menschen versorgt hat, muss heute 3000 Menschen versorgen.“ Der Ausgang der Proteste markierte das Ende der fantastischen Zeit: sechs Demonstranten wurden getötet, Hunderte verletzt oder inhaftiert. „Sie gaben uns sehr deutlich zu verstehen, dass es gewisse Themen gab, über die wir nicht reden dürfen. Sie liessen uns verstehen, dass, so lange wir uns gut benähmen und die jüdische Vormachtstellung akzeptierten, sie uns sozio-ökonomische Entwicklung zusicherten, aber niemals politische Gleichberechtigung.“
Nach dem Land Day habe die Zeit der “Israelisierung” der arabischen Gemeinden aufgehört und eine Wiederbelebung der palästinensischen Identität begonnen. Die sozialen Beziehungen mit der Westbank vertieften sich, viele hätten dort Familie. Die Oslo-Abkommen im Jahr 1992 ignorierten komplett das Problem des Status der arabischen Israelis. Niemand traute sich, darüber zu reden. „Heute haben wir dreifach und vierfach Identitäten.“ Junge Menschen gingen zu jüdischen Universitäten, aber lebten in arabischen Gemeinden, oder arbeiteten in jüdischen Städten, wo sie aber nicht lebten. Die arabische Bevölkerung pendele also jeden Tag zwischen Zuhause und Arbeit und Schule – zwischen jüdischer Identität und arabischer Identität. In den meisten öffentlichen Ämtern sei die arabische Bevölkerung unterrepräsentiert. Bei 21% Bevölkerungsanteil stellten sie nur 1,7% der Beamten, 1% der Polizeikräfte. Auf vielfache Weise werde die arabische Bevölkerung diskriminiert und verbliebe in armen Verhältnissen. „Dies ist keine zufällige Armut, sondern institutionalisierte Armut.“
Hummus Ko-Existenz
Mohammad Darawshe traf den ersten Juden im Alter von 19. Es sei eine lebensverändernde Erfahrung für ihn gewesen und seitdem wünsche er sich, dass jeder in Israel diese Art der Erfahrung machen solle. Die getrennte Gesellschaft sei eine Realität heutzutage, Araber und Juden lebten in verschiedenen Städten und gingen zu unterschiedlichen Schulen.
Seit Givat Haviva eine gemeinsame Gesellschaft anstrebt, begannen sie damit, Treffen zwischen jungen Arabern und Juden zu organisieren: gemeinsam Dinge unternehmen, Musik zu machen, Sport etc…., um „einander zu vermenschlichen“. „Wenn Du den anderen nicht kennst und ihn als Feind siehst, dann denkst Du an ihn als etwas nicht-menschliches, etwas mit Hörnern und einem Schwanz.“ Eine gute Art, diese Entmenschlichung zu überwinden, sei das, was Darawshe „Hummus Ko-Existenz“ nennt: Du lernst einander kennen, machst Aktivitäten zusammen, „Du isst Deinen Hummus vom gemeinsamen Teller“, Du findest gemeinsame Interessen und Gewohnheiten und vielleicht freundest Du Dich an miteinander. „Für 99% der Kinder in diesem Programm war es das erste Mal, dass sie jemanden von der anderen Seite trafen.“
Der große Rückschlag kam schnell: Im Oktober 2000 begann die zweite Intifada, die Anzahl der Teilnehmer im Programm des Friedenszentrums in Givat Haviva, Juden und Araber, schmolz zusammen. „Wir haben eigentlich nur noch Krisenmanagement betrieben. Wir versuchten, die Kerze am Brennen zu halten.“ Die Lehre, die Darawshe aus dieser Erfahrung zog: „Die Effektivität des Konzeptes der Hummus Ko-Existenz ist sehr begrenzt.“ Wenn sie ehemalige Teilnehmer des Programmes befragten, hätten sie oft die Antwort bekommen: „Ja, ich habe einen netten Araber/Juden getroffen, aber all die anderen…!“
Wer war unter dem Messer Abrahams?
Ein anderes Konzept ist die Debatte über die Geschichts-Erzählweise. Die Idee ist es, jüdische und arabische Sekundarschüler zusammenzubringen und die verschiedenen Erzählweisen ihrer gemeinsamen Geschichte zu diskutieren. Gewöhnlich finge die Debatte mit „Wer hat was wem angetan“ an und ginge weiter damit herauszufinden, wer als erstes was wem angetan habe. Darawshe scherzt, dass es auf diese Weise immer mit der Frage endete: „Wer war unter dem Messer Abraham’s, Ismael oder Isaak?“ Dieses „blame game“ (Spiel der Vorwürfe) sei wie ein Wettbewerb, wer das größte Opfer sei. „Und wisst Ihr, wer von Abraham geopfert wurde?“ fragt Darawshe verschmitzt grinsend. „Es war die Ziege!“
Darawshe sagt uns, dass er immer mehr dazu tendiere, einen pragmatischen Ansatz zu favorisieren, statt einen idealistischen. Ein pragmatischeres Konzept sei es, nach „übergeordneten Zielen“ zu suchen. „Wenn wir uns schon nicht auf eine gemeinsame Geschichtserzählung einigen können, so sind wir vielleicht dazu fähig, uns auf übergeordnete Ziele zu einigen, die unser Leben einfacher machen könnten.“ Die Gründung gemeinsamer Jüdisch-Arabischer Schulen war ein Versuch, die Trennung zu überwinden. Allerdings sei die „Komfortzone der Trennung“, wie Darawshe sie nennt, sehr stark. Nach der Gründung sechs solcher Gemeinschaftsschulen (von 6000 Schulen insgesamt in Israel) sah es so aus, als sei eine Sättigung erreicht. Es schien kein Interesse an weiteren Gemeinschaftsschulen zu geben.
Der nächste Versuch war zwar eher unspektakulär, stellte sich aber als sehr effektiv heraus. Sie fingen mit einem Programm an, in welchem arabische Lehrer an jüdische Schulen gingen, um arabische Kultur, Religion und Lebensstil zu unterrichteten. „Es war wie eine Tablette gegen Rassismus“, sagt Darawshe. Studien, die die Toleranz von jüdischen Kindern gegenüber Arabern vor und nach dem Programm maßen, zeigten einen Abfall von 63% auf 10% im „Rassismusindex“. Der Rassismusindex wurde entwickelt von Professor Ephraim Ya’ar der Tel Aviv Universität. In diesem Test werden Kindern Fragen gestellt, wie: würdest Du in einem Haus mit einer arabischen/jüdischen Familie leben wollen? Inzwischen schliesst das Programm 360 Schulen ein und letztes Jahr startete es auch andersherum (jüdische Lehrer, die an arabische Schulen gehen), was gleichermassen erfolgreich sei.
Ein Fahrplan zur gemeinsamen Gesellschaft
Wenn Darawshe mit Politikern sprach, um ihnen die Vorschläge zur Unterstützung einer gemeinsamen Gesellschaft darzulegen, hätte er wiederholt die Botschaft bekommen: “Ich kann Euch helfen, inoffiziell, auf vielerlei Weise, um Eure wertvollen Programme zu unterstützen, aber sollte ich Euch offen helfen, dann verliere ich meinen Posten.“ Nichtsdestotrotz brachte die Suche nach Lösungen zusammen mit führenden Persönlichkeiten der Politik oder der Bildungsinstitutionen oft erstaunliche Resultate. Zum Beispiel der Versuch, eine höhere Immatrikulationsquote von arabischen Studenten am Technion, der berühmten israelischen Universität für Technologie und Wissenschaften, zu erreichen. Die Quote lag bei 3% und es wurde behauptet, dass es „nicht genug intellektuelle Kapazität in den arabischen Gemeinden“ gäbe. Nach Analyse der Situation arabischer Studenten entwickelten sie ein Programm, das die Rate schnell auf 22% ansteigen liess: das Technion bot eine einjährige vor-universitäre Ausbildung und ein Mentorenprogramm an, in welchem jüdische Studenten als Mentoren arabischen Studenten bei Schwierigkeiten helfen wie Wohnungssuche, sich zurechtzufinden oder mit der hebräischen Sprache, oder einfach nur, sie auf eine Party mitzunehmen.
Inspiriert von den Karfreitagsabkommen Nordirlands wird nun eine größere Anstrengung unternommen, um praktische Empfehlungen für einen Fahrplan hin zu einer gemeinsamen Gesellschaft zu erarbeiten. Für diesen Zweck werden 70 anerkannte Personen aus allen Bereichen der jüdischen und arabischen Gesellschaft ein Dokument mit Empfehlungen entwerfen. Der wichtigste Aspekt dabei sei, dass diese Vorschläge in großen Versammlungen in 40 Städten überall in Israel präsentiert werden und 30 000 Menschen werden an einer Abstimmung darüber teilnehmen, für wie machbar und realistisch sie diese Ziele halten.
Hier in Deutschland studiert Mohammad Darawshe nun mit Hilfe der Robert-Bosch Stiftung Konfliktlösungen in anderen Gegenden, insbesondere wie Minderheiten mit dem Staat, in dem sie leben, Vereinbarungen erreichen, die ihnen Gleichberechtigung zusichern.