Ein Gespräch über Kinderrechte und Demokratie in der Schule mit dem Bildungsforscher und Kinderrechtsexperten Lothar Krappmann. Veröffentlicht von der Max-Planck Gesellschaft.
Lothar Krappmann war bis 2001 am Max Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin und an der dortigen Freien Universität tätig. Von 2003 bis 2011 wirkte er als Mitglied des UN-Ausschusses für die Rechte des Kindes und bekam im Jahr 2012 die Theodor-Heuss-Medaille der gleichnamigen Stiftung für sein Engagement für Kinderrechte verliehen. Der Titel seines aktuellen Buchs lautet „Worauf Kinder und Jugendliche ein Recht haben: Kinderrechte, Demokratie und Schule. Ein Manifest“ (Debus Verlag Pädagogik 2016).
Herr Krappmann: Die UN-Kinderrechtskonvention ist 25 Jahre alt und in Deutschland seit 1992 geltendes Recht, auch die Kultusministerkonferenz hat sich 2006 ausdrücklich dazu bekannt. Braucht es denn da noch ein Manifest, um sie auch in den Schulen zu verankern?
Die UN-Konvention war sicherlich ein großer Durchbruch. In den reichen Ländern wurde aber nicht genügend gesehen, dass sie nicht nur ein Dokument für die „rückständigen“ Entwicklungsländer darstellt. Zudem sollten Kinderrechte nicht auf die Schutzrechte reduziert werden. Sicher brauchen Kinder und Jugendliche – die bei den Kinderrechten immer mit gemeint sind – auch Schutz. Darüber hinaus aber haben sie rechtlichen Anspruch auf Gehör.
Mit dieser Entscheidung haben die Staaten sichergestellt, dass die Heranwachsenden an Entscheidungen, die sie betreffen, beteiligt werden. Kinder treten ja neu in diese Welt ein, ihre Interessen decken sich nicht völlig mit denen der Erwachsenen. Sie haben ihre eigenen Ziele, die man ernst nehmen muss. Sie sind begierig darauf zu lernen, wie es in der Welt aussieht. Dabei schauen übrigens alle Heranwachsenden, die nicht mit schlimmen Erlebnissen aufgewachsen sind, immer auch auf die Erwachsenen.
Was zeichnet denn die Institution Schule aus, wenn es um Kinderrechte geht?
Wenn wir die Kinderrechte als wichtige Grundlage dafür verstehen, dass Kinder und Jugendliche mitbürgerliche Kompetenz und Verantwortung entwickeln können, ist die Schule als Ort, an dem sie gelebt werden, besonders wichtig. Alle Kinder und Jugendlichen durchlaufen sie. Und Schule ist nicht nur ein Lern-, sondern auch ein Lebensort. Hier gestaltet man zusammen viele Jahre gemeinsamen Lebens. Man kann in einer Woche anfangen, etwas zu diskutieren, und das in der nächsten Woche fortsetzen. Man hat die Chance, über Werte zu diskutieren und vieles gemeinsam auszuprobieren. Schule ist ja keine Spielwiese, sondern ein realer Ort, eine Institution der Gesellschaft.
Führt das nicht zu endlosen Diskussionen, die heute in vielen Erziehungsratgebern schon als kontraproduktiv gebrandmarkt werden? Stichwort: ‚Kindern Grenzen setzen‘.
Die Kinderrechtskonvention fordert nicht auf, endlos miteinander zu reden. Diskussion und Streit im Klassenzimmer dienen dem Ziel, zu Vereinbarungen und Regeln für gemeinsames Lernen und Leben, auch zu Grenzsetzungen zu kommen. Sicher erfordern Aushandlungs- und Einigungsprozesse Vorbereitung und Zeit.
Lernen Lehrer denn heute, wie solche Diskussionen zu strukturieren sind?
Leider kommt das in der Ausbildung zu kurz. Da es zum Kern der Professionalität von Lehrern und ihres Berufsrollenverständnisses gehört, sollte es nicht an einzelne Fachdidaktiken delegiert werden, sondern zur Grundausbildung gehören.
Welche Rolle spielt in der Demokratiepädagogik denn die Familie, die im Bildungssektor letztlich immer prägend bleibt?
Die Familie bereitet vieles vor, in Gesprächen am Esstisch, beim Planen von gemeinsamen Unternehmungen. Doch sie ist eine recht kleine Einheit mit nur wenigen Personen in besonderen emotionalen Beziehungen zueinander. Schulklassen sind nicht nur eine kostengünstige Erfindung, um einer Gruppe Gleichaltriger gleichzeitig Wissen zu vermitteln. Sie sind ein sozialer Ort, an dem man sich Wissen, Können und Urteilskraft aneignet, um mit Unterstützung von Erwachsenen gemeinsam relevante Lebensaufgaben zu bearbeiten, und das nicht nur punktuell, sondern kontinuierlich.
Die Schule ist dem Leben in Arbeitsgruppen, Nachbarschaften, bürgerlichen Initiativen viel näher als die Familie. Hier in der Schulklasse kann man lernen, worauf jede und jeder ein Recht hat, wie man Verschiedenheit respektiert und wie man mit Minderheiten umgeht – fundamentale Grundlagen demokratischer Kompetenz.
Welche Themen bieten sich dafür an?
An erster Stelle vieles, das sich in der Schule leider oft unmittelbar zeigt: Gewalt und Mobbing der Kinder untereinander, Umweltverschmutzung oder Verschwendung von Essen. Oft spaltet soziale Ungleichheit die Klasse; Flüchtlingskinder benötigen Unterstützung; Kinder mit Behinderungen brauchen mehr als Wohlwollen. Hinter diesen Herausforderungen stecken zentrale Lebensthemen, zu denen Kinder Fragen, oft auch Ängste haben. Für diese Themen muss die Schule ihr ganzes Können aufbringen.
Und Zeit! Hört man die Klagen von Eltern, Lehrern und Schülern, so gibt es davon in den Schulen heute immer weniger. Waren die Voraussetzungen für Kinder und Jugendliche, in der Schule zu ihrem Recht zu kommen, früher besser?
Das glaube ich nicht! In meiner eigenen Schulzeit war die Schule eine Anstalt, ein Herrschaftsinstrument, zunächst in einem totalitären Staat. In meiner Wahrnehmung kam der erste Entwicklungsschub in Richtung Demokratie durch die Reeducation-Programme der Amerikaner in die Schulen. Es wurden Schülervertretungen eingerichtet und Klassensprecher gewählt, wir bekamen eine Ahnung davon, was Mitbestimmung bedeuten könnte. Unsere Lehrer wussten allerdings oft noch nicht, wie das funktionieren sollte. Sie waren daran gewöhnt, zu und nicht mit den Kindern zu sprechen und waren nicht bereit, dem, was die Schüler sagten, Gewicht zu geben.
Im Zuge der Studentenbewegung nach 1968 hat sich dann aber doch einiges geändert?
Das war sicher ein weiterer Schritt. Was aber nicht heißt, dass man schon gewusst hätte, wie man das Verlangen nach Anerkennung und Mitsprache pädagogisch umsetzen kann. Die UN-Kinderrechtskonvention von 1989 hat da sehr weitergeholfen, weil sie eine rechtlich abgesicherte Wertegrundlage geschaffen hat, auf der sich gemeinsame Verantwortung entwickeln kann.
Jetzt kommt eine große Gruppe von Kindern in unsere Schulen, die mit ihren Familien oder ohne sie, als unbegleitete Minderjährige, vor Gewalt, Krieg und Terror in ihren Heimatländern geflohen sind. Was bedeutet das für Kinderrechte und Demokratie in der Schule?
In mancher Hinsicht ist das ein Testfall: Viele sind mit ihren Familien geflohen, weil sie in einem undemokratischen, gewalttätigen Regime nicht mehr leben konnten. Bei uns lernen sie nun ein Gegenmodell kennen. Wir müssten geradezu dankbar sein, denn sie fordern uns heraus, im schulischen Zusammenleben mit diesen Kindern zu erproben, ob die Toleranz, die Offenheit und der Respekt, über die wir gern reden, auch in der Wirklichkeit Bestand haben. Wir sollten die Chance erkennen, eine Bildung für das Zusammenleben aller Menschen zu entwickeln.
Das klingt schön. Doch sind die Schulen damit allein nicht überfordert?
Dass mehr Beteiligung der Kinder und Jugendlichen möglich ist, brennende Themen in Unterricht und Praxisprojekten behandelt werden können, beweisen Schulen schon heute. Sie brauchen allerdings Unterstützungen, etwa eine pädagogische Werkstatt, ein Raum zum Nachdenken, Austausch, Planen und Ausprobieren. Eine Reihe von Stiftungen nimmt sich des Themas an, die Deutschen Gesellschaft für Demokratiepädagogik stärkt Lehrkräfte, es gibt Schulnetzwerke, die sich für Kinderrechte und Mitwirkung der Schüler einsetzen. Ich hoffe natürlich, dass auch unser „Manifest“ einen positiven Einfluss hat.
Manche Schulen ermöglichen Kindern und Jugendlichen, Erfahrungen im Umfeld zu sammeln. Etwa Praktika in Einrichtungen außerhalb der Schule zu machen und die Erfahrungen dann im Unterricht zu bearbeiten. Oder Patenschaften für Kindergärten und Altenheime in der Umgebung zu übernehmen. Auch ein solches soziales und bürgerliches Engagement gehört schließlich zu den Rechten der Kinder auf „Förderung ihrer Entwicklung in größtmöglichem Umfang“ und „Vorbereitung auf verantwortungsbewusstes Leben“, wie es die Kinderrechtskonvention von den Bildungseinrichtungen verlangt.
Das Gespräch führte Adelheid Müller-Lissner.