Im Frühjahr 2016 wurde infolge der drastischen Arbeitsgesetzesentwürfe in den französischen Städten eine Protestbewegung ins Leben gerufen. Seitdem versammeln sich auf den öffentlichen Plätzen jeden Abend Menschen mit unterschiedlichsten kulturellen Hintergründen, um Politik neu zu erfinden. In Strasbourg haben wir nach fünf Monate langen Debatten beschlossen, ein Manifest zu verfassen. Da Solidarität und Freundschaft nicht an der Grenze und schon gar nicht am Rheinufer aufhören, möchten wir dieses Manifest in anderen Sprachen verbreiten, angefangen mit dem Deutschen.
Strasbourg, 19.8.2016
Niemand ist perfekt, so ist die menschliche Natur. Jeder mit einem gesunden Menschenverstand würde also der Aussage zustimmen, dass in einer echten Demokratie keiner das Schicksal anderer in seinen Händen halten dürfte. Die Nuit debout ist demnach keine neue politische Bewegung. Sie gibt nicht vor, das Volk zu vertreten. Gerade das ist nicht ihr Ziel. Sie definiert sich eher als eine neue Art und Weise, Politik zu machen, die es dem Volk erlaubt, über wichtige Dinge selbst zu entscheiden und seine Gesetze zu machen, ohne von wem auch immer repräsentiert zu werden. Ein Praxisraum, in dem wir versuchen, eine echte Demokratie zu entwerfen. Ein Labor, für das wir hoffen, dass es sich in der ganzen Welt ausbreitet, weil alleinige Entrüstung nicht mehr reicht. Wir brauchen Lösungen.
Wir betrachten Demokratie als die „Macht des Volkes, für das Volk und durch das Volk“, nicht „durch einen Vertreter des Volkes“. Wir sind der Ansicht, dass korrekt informierte Menschen durchaus in der Lage sind, über die Regeln nachzudenken und zu entscheiden, die sie sich selbst auferlegen. Dass sie keine Parteien brauchen, die ihnen erklären, was sie zu glauben haben und was nicht. Rousseau sagte, der Mensch sei von Natur aus gut und würde erst später von der Gesellschaft verdorben werden. Wir teilen diese Analyse. Wir sind uns sicher, dass Personen, deren Verantwortungsgefühl geweckt ist, die demnach der Folgen ihres Handelns Rechnung tragen, verantwortungsvoller denken und handeln.
Es ist zu einer lebensnotwendigen Dringlichkeit geworden, diese ungerechte Welt, in der wir heute leben, zu verstehen. Einige der größten Aktionäre verantwortungsloser multinationaler Konzerne besitzen mittlerweile nahezu die Gesamtheit unserer einflussreichsten Medien. Darin pflegen sie die Illusion einer perfekt demokratischen Staatsform. Sie verbreiten darin massiv die von ihnen finanzierten Wahlkampagnen professioneller Politiker, welche ein reines Ablenkungsmanöver sind. Diese unrechtmäßige und allgewaltige Minderheit ist dadurch in der Lage, allein zu ihrem Vorteil und völlig ungestraft, einen gefährlichen Einfluss auf die Erarbeitung unserer Gesetze auszuüben, sich durch legal gemachte Mechanismen wie der Steuerflucht der Justiz und den Steuerbehörden zu entziehen, schonungslos Millionen von Menschen in Fabriken, Minen oder auf Feldern auszubeuten, Tiere zu quälen, Waffen zu verbreiten, und des Weiteren die Luft, Nahrung, Böden, Berge, Wälder, Flüsse und Ozeane in einer der Menschheitsgeschichte bisher ungekannten Geschwindigkeit zu verpesten.
Wir sind keine einwilligenden Opfer mehr, bereit unseren Knechtschaftsvertrag weiterhin stillschweigend zu erfüllen. Zu unserem eigenen Wohl, aber vor allem zu dem der zukünftigen Generationen, haben wir entschieden, uns in Frage zu stellen. Wir wollen nicht länger so tun, als sähen wir den intellektuellen Schwindel nicht, der unsere Gesellschaft ausmacht. Eine Gesellschaft basierend auf Individualismus, der Vorherrschaft finanziellen Interesses über dem der Allgemeinheit, Wirtschaftswachstum und der vermeintlichen Repräsentativität unserer Abgeordneten. Einige unserer Überlegungen drehen sich um eine neue Verfassung; lokale, direkte und transparente Demokratie; örtliche Selbstversorgung an Lebensmitteln; natürliches Postwachstum; Energiewende; regionale Währung; Boykott; Erlass der illegitimen Staatsschulden; Umverteilung der Reichtümer; Grundeinkommen; Unabhängigkeit des Gerichtswesens; freie Medien; eine Umorientierung der Erziehung vom Gehorsam hin zur Neugierde.
Schweigen heißt Gewähren lassen. Die Geschichte und unsere Kinder werden jene, die während dieser entscheidenden Zeit geschwiegen haben, vielleicht hart verurteilen. Darum haben wir entschieden, mehrmals in der Woche zusammenzukommen. Unsere Hauptversammlungen, die manchmal thematisch orientiert sind und manche Nachmittage, an denen wir für jedermann zugängliche Kurse anbieten, um unser Wissen zu erweitern, erlauben es uns, unsere Rolle als „whistleblower“ zu erfüllen und den Finger auf die Wunde zu legen. Dabei versuchen wir, realisierbare und Heil bringende Lösungen zu finden, die sich eines Tages als offensichtlich durchsetzen könnten und konkrete Mittel und Wege, diese Lösungen umzusetzen. Jedem steht es frei, an diesen Debatten teilzunehmen, sein Wissen beizutragen, sich an den vorgeschlagenen Aktionen zu beteiligen, sich einer Arbeitsgruppe anzuschließen oder selbst eine zu gründen.
Wie immer mehr Menschen glauben auch wir nicht mehr an Fatalität. Wir konzentrieren uns lieber auf ein Bewusstseinserwecken, um das Hoffen auf ein großes bevorstehendes Erwachen des Volkes zu pflegen. Wir lassen uns nicht mehr von Spaltungsversuchen oder Sündenbock-Theorien in die Falle locken. Wir sprechen jenen, die offiziell oder im Verborgenen über uns herrschen, die Legitimität ab. Wir haben ihnen zu lange Vertrauen entgegengebracht. Das war ein Fehler. Noch schlimmer aber wäre es, diesen abzustreiten. Wir lehnen es ab, weiterhin ein System zu tolerieren, das es solch einer kleinen Anzahl an Personen erlaubt, so viel Macht anzuhäufen und zu monopolisieren. Wir wissen mittlerweile, dass Letztere die ersten Verantwortlichen der sozialen, humanitären, militärischen und die Umwelt betreffenden Katastrophen sind, die sich vor unseren Augen zu Beginn diesen 21. Jahrhunderts vervielfachen. Es ist weder an uns, noch an unseren Kindern und Enkeln, oder gar am Rest der Welt, unter den verhängnisvollen Konsequenzen deren Handelns zu leiden. Die Rechtsprechung soll für alle gleich sein. Um das zu erreichen, erbringen wir alle gemeinsam unseren Beitrag zum unweigerlich bevorstehenden Umbruch hin zu einer neuen Welt.
Alle verschieden, alle vereint, für die Freiheit, die Gleichheit und die Brüderlichkeit.
Der Begriff „Nuit debout“ entstand nach der ersten großen Demo gegen das Arbeitsgesetz, als deren Teilnehmer entschieden, an diesem Abend nicht nach Hause zu gehen und die Nacht gemeinsam über „auf zu bleiben“. Später hat man es auch als „Aufrechtbleiben in düsteren Zeiten“ interpretiert.