Tasso hat dank seinem Projekt “quindicipercento” (zu Deutsch: fünfzehn Prozent) eine gewisse Berühmtheit erlangt. Es handelt sich hierbei um eine fotografische Recherche über die Behinderung in der Welt. Zu diesem Thema hat Christian ein Buch veröffentlicht und auch mit großem Erfolg eine fotografische Ausstellung in Mailand organisiert. Er hat mit dem „Teil der Menschheit zusammengearbeitet, die trotz der Barrieren seinen Weg fortsetzt“.

Diese Treffen im Laufe von zwei Wochen haben mich persönlich sehr bereichert, sei es wegen der Gespräche und des Austausches verschiedener Standpunkte, als auch wegen der Ehre, ihn logistisch bei der Realisierung seines neuen Projektes in verschiedenen europäischen Ländern, worunter auch in Deutschland, begleiten zu dürfen.

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Vater und Sohn arbeiten auf dem Feld in Ecuador. (Bild: © Christian Tasso)

Amelia Massetti: Christian, du bist nach Berlin gekommen und hast Kontakt mit Artemisia aufgenommen, um dein fotografisches Projekt „quindicipercento“ weiterzuführen. Könntest du mir mehr von deiner Arbeit erzählen?

Christian Tasso: Ich arbeite gerade an einer Reihe von Fotos über die Behinderung in der Welt: ich reise in zahlreiche Länder, um zu erzählen, wie die Menschen mit Behinderung dort leben. Ich habe mich entschieden, 2016 nach Berlin zu kommen, weil Berlin eine der barrierefreisten Städte der EU ist.

Ich bin hier, weil ich es im Rahmen meiner Forschungsarbeit für wichtig halte, von dieser Realität zu berichten. Ich möchte einfach versuchen zu verstehen, was es bedeutet, in einer Stadt zu leben, die fast völlig frei von architektonischen Barrieren ist und auch überprüfen, ob die Überwindung der architektonischen Barrieren auch zur Überwindung der kulturellen Barrieren führt, die sehr schwieriger zu überwinden sind.

Was hat dich auf deiner künstlerisch-fotografischen Laufbahn dazu bewegt, dem Thema der Behinderung Vorrang einzuräumen? 

Ich kam zufällig mit meiner Fotografie in Kontakt mit der Behinderung, als ich 2009 für eine italienische NRO in den Sahrawi-Flüchtlingslagern in Südalgerien tätig war. Ich erzählte die Geschichten der Menschen mit Behinderung in jener fragilen gesellschaftlichen Realität. Und seitdem wuchs der Wunsch in mir, eine ausgedehntere Forschungsarbeit zum Thema weltweit in die Wege zu leiten. So nahm das Ganze seinen Anfang. Ich versuchte durch Hunderte kleiner Geschichten, die dann zu einer größeren Erzählung zusammenfinden, viele unterschiedliche Länder miteinander zu verbinden.

Welche Zielsetzung verfolgst du mit dem Projekt „quindicipercento“?

Ich möchte mit diesem Projekt eine Fragestellung vorbringen und die Menschen zum Nachdenken anregen über eine Realität, die den meisten gar nicht bekannt ist oder die von der Mehrheit der Menschen einfach nur ignoriert wird.

Du hast eine Ausstellung in Mailand organisiert und hast auch viele Anerkennungen erhalten. In Kürze wirst du auch eine Ausstellung in Venedig und in anderen europäischen Städten organisieren. Möchtest du auch eine in Berlin machen?

Natürlich. Wenn der Rahmen stimmt, würde ich sehr gerne meine Fotos auch in Berlin ausstellen.

Möchtest du in dieses Projekt der Fotoausstellung in Berlin auch Artemisia einbeziehen?

Mit Sicherheit. Das wäre eine gute Gelegenheit, um über die Fotoausstellung auch den Berliner Verein Artemisia vorzustellen.

War das Treffen mit dem Verein Artemisia für dich nützlich?

Als Italiener habe ich vorab alle italienischen Vereine aufgesucht, die sich in Deutschland mit dem Thema der Behinderung befassen, um eine flüssigere Einführung in die deutsche Realität zu erhalten.

Ich bin auf den Verein Artemisia gestoßen und habe direkten Kontakt mit der Gründerin Amelia Massetti aufgenommen, die mir alle Türen geöffnet hat, um meine Geschichten zu finden. Mir ist es somit gelungen, in eine Werkstatt für Menschen mit Behinderung zu kommen. Und von dort aus habe ich eine Reihe von Verbindungen und Kontakten hergestellt, über die ich an die Informationen gekommen bin, nach denen ich suchte.

Wie verhältst du dich, wenn du Menschen mit Behinderung begegnest. Verspürst du eine gewisse Emotion, leidest du oder sind diese Menschen für dich nur der Gegenstand bzw. die Person, den bzw. die du fotografierst?

Ich gehe mit Ihnen um wie mit allen anderen Menschen. Ich denke nicht, dass körperliche oder geistige Unterschiede einen ausreichenden Grund darstellen, um meine Art und Weise zu ändern, auf Menschen zuzugehen und mit ihnen in Kontakt zu treten.

Wir waren auch beim Thikwa-Theater und du hast versucht, die Bedeutung deines Projektes darzulegen, in dem du möchtest, dass die Definition der Normalität irgendwie aus der Welt verschwindet. Könntest du näher erklären, was du damit meinst?

Darauf möchte mit einer Frage antworten: was bedeutet Normalität? Es ist nicht meine Aufgabe, diese Frage zu beantworten.

Christian Tasso gibt die Hoffnung nicht auf, durch die von ihm gesammelten Geschichten das Thema der Behinderung weltweit ein wenig zu beleuchten und dass diese Geschichten eines Tages die Menschen von der Angst vor dem Anderen, die in allen von uns vorhanden ist, zu befreien. Seine Bilder dokumentieren, erwecken Emotionen, berühren, denunzieren und tragen dazu bei, die Sichtweise unserer Welt zu verändern.

Von Amelia Massetti, Artemisia, 2. September 2016, Übersetzung aus dem Italienischen von Milena Rampoldi von ProMosaik.

Der Originalartikel kann hier besucht werden