Gabriela Jurosz-Landa
Uwe Eric Laufenbergs 2016-Inszenierung des Parsifal in Bayreuth wurde heftiger Kritik unterworfen und doch ist sie eine der gelungensten der vergangenen Jahrzehnten.
Mythisch subtil in seiner Multidimensionalität, konkret den Vorgaben Richard Wagners folgend und gleichzeitig politisch und gesellschaftlich aktuell, wirkt Laufenbergs Regiewerk einerseits zeitlos und steht andererseits im Brennpunkt der Gegenwart. Ganz nach Wagners Quintessenz „Zum Raum wird hier die Zeit“ lässt der Regisseur die Ereignisse, die aus den internen Zerwürfnissen innerhalb jeder einzelnen Figur hervorgehen, pulsieren. Aus ihrem Mikrokosmos entwickeln sie sich, um bald ihre hier gewonnene menschliche Erfahrung in die makroskopische Bedeutungssphäre zu überschreiben.
Mythos und Realität
Die Opferstellung des Sakralkönigs kann offenbar in der westlichen Moderne nicht mehr begriffen werden. Das, obwohl wir sie in scheinbar säkularer Weise bei jeder politischen Wahl erneut durchleben. Ob das Volk direkt oder wie in den Vereinigten Staaten durch die Kaste von Senatoren, die ihren Präsidenten wählt, mythischer kann das immer wiederkehrende Ritual kaum mehr vollzogen werden – und brutaler in seiner Realität auch nicht.
Wie Sakralkönig Amfortas, so haben auch die heutigen höchsten Repräsentanten ihrer Länder eine Rolle, die die säkulare weit überschreitet. In der Gesellschaft unausgesprochen verkörpern sie das mythische Leittier oder aber den Buhmann zugleich. In ihnen spiegeln sich die Hoffnungen, Ängste und Enttäuschungen des Volkes. Wird er sündig, so wird er geopfert. Diesen Akt vollziehen die streng geordneten Priesterschaften, die in säkularen Gesellschaften repräsentiert werden durch Parlamente und Repräsentantenhäuser sowie einer unsichtbaren Kaste von geistigen Kontrolleuren und Manipulatoren. Staat und Kirche in unseren modernen Systemen sind nicht ganz so geteilt wie es scheint. Ähnlich ihren Vorläufern, den Gralsrittern europäischer Legenden, agierten und agieren vielfach noch heute die Bruderschaften der Alten Maya (wie auch der zeitgenössischen Maya), Priestergesellschaften afrikanischer und asiatischer Gesellschaften. Ihre Medial- und Kontrollfunktion ist nicht selten gegen die Natur gerichtet und hütet eher die eigenen Interessen. Sie repräsentieren jegliche Instanz, die den Trichter bildet, der leitet, wann, wie und wieviel des Blutes ihr Oberhaupt zu spenden hat. Ihnen ist selbst der Herrscher unterworfen. Fällt er aus der Rolle, wird er „angezapft“, wie es Laufenberg wörtlich bzw. bildlich darstellt.
Erlösung ist Verwandlung durch Intention
Gleichzeitig, durch die Hingabe des Sakralkönigs, kommt es bei dem Selbst-Opfer zur Läuterung des Physischen ins Geistige und damit zur Erlösung des Opfers. Dies ist eine heute schwer verständliche, weil verdrängte Verwandlung und doch eine von je her in vielen Kulturen essentielle. Blut, als dem Menschen von „Gott“ gegebenes Lebenselixir, spendet die Lebenskraft eines Jeden, mit individueller Frequenz. Es ist als solches Träger von Intention. Solcher Gedanke und Ziel dessen, was der Mensch verfolgt bestimmt die Frequenz und Qualität seines Blutes, wie wir von indianischen Völkern lernen können. Das Geben dieser Intention und ihre resultierende Verwandlung sind mythisch und alltäglich zugleich. Der Mensch vollzieht sie durch seine Aktivität in der Arbeit, der Hingabe an die Familie und Freunde oder andere soziale Dienste täglich ohne Gedanken an Quelle und Ziel. Man nennt das „Blut und Wasser schwitzen“.
Es galt einst, Königsblut über Generationen rein zu halten. In seiner Reinheit sah man die Kraft der Wahrheit. Das Ritual diente dazu, es in den, in seiner Wirkungsstärke puren Urstoff zu verwandeln. Es war eine Frage der Qualität und der Schwingungsfrequenz. In seiner pursten Gestalt kann Blut Absicht besonders effektiv transportieren und dazu diente das Königsgeschlecht sozusagen als Transport- und ausführende Instanz. Ist in seinem Blut etwa die Intention der Erlösung oder der Fortbestand der Menschheit enthalten, wie es im Falle Christi sowie in vielen Kulturen wie auch im Wagnerwerk der Fall ist, hat die Blutessenz im Urzustand ihrer Reinheit die Kraft, dies zu bewirken. Hitler wollte dies mit seiner Arier-Philosophie rein biologisch nutzen. Mythisch – im Sinne der Wahrheitsergründung und ihrer Erhaltung – wird es in vielen Kulturen praktiziert. Durch die Kraft des beabsichtigten Selbstopfers wird die Urwirkung des Grals wiederhergestellt und es entsteht Leben.
Das Opferritual des Ader-Lassens hat viele Gesichter und ist ein mythischer Akt, dem sich auch das scheinbar Mythos-lose heutige Hier-und-Jetzt nicht entziehen kann. Wie es Laufenbergs Wagner-Interpretation darstellt, ist auch die aktuelle Welt von mythischen – immer wiederkehrendem – Verhalten gespickt und wer die, bei Laufenberg aktualisierte orientalisch-okzidentale Geschichte kennt, weiß, wovon die Rede ist.
Die Kreuzung von Raum und Zeit
Der Gekreuzigte repräsentiert für Jedermann die Kreuzung von Raum und Zeit. Die individuelle Lebens-Zeit ist der Gralsweg – deren Frequenz der Stärke der Intention entspricht. Die hier ihren Ablauf tätigenden Absichten eines Jeden transkribieren sich in die Raum-Sphäre, in der sie unendlichen und unbeweglichen, ewigen Inhalt erlangen. Christi Intention, sich für die Menschheit zu opfern, kann als höchste menschenmögliche Absicht erachtet werden und ist deshalb der Gralsessenz gleich.
Inquisition und Aufklärung haben ihr Ziel der Eliminierung dieser Sinngehalte aus dem Verständnis ihrer Bürger erreicht. Die Gedankenmaschinerie sitzt so tief, dass ein Erinnern an Mythos verlacht wird. Man muss sich die Multidimensionalität von Inhalten jedoch auch in der modernen Gesellschaft bewusstmachen. Wenn auch es einem teils medial in ein Raster von Standards gezwängtem Zuschauerauge heute schwerfallen mag, diese verbildlichten Ebenen zu ergreifen, es ist genau dies, das der Regisseur dieser Inszenierung zu erwirken vermag.
Verbindungslosigkeit des Geschehens
Die Vielzahl an Ebenen lässt Laufenberg subtil ineinander übergehen oder aber durch brüskes Abbrechen einer Szene brutal aufeinanderprallen. Kritisiert wurde in den ersten Rezensionen in dem Zusammenhang eine „Unverbundenheit“ des Geschehens in dieser Produktion. Amerikanische „snipers“ fallen kontextlos in den heiligen Bau ein, fuchteln scheinbar sinnentwendet mit Gewehren hin und her. Die auf den ersten Blick uns entgegentretende Verbindungslosigkeit spiegelt jedoch exakt die der losen, durch fragliche Verknüpfungswerte unverbundenen globalisierten Welten der Aktualität, in der dem scheinbar so freien Individuum die Eigenkontrolle einmal mehr aus den Händen geglitten ist. Individuelle Unabhängigkeit ersetzt in unserer Gesellschaft Interkonnektivität zwischen Personen und Kulturen. Gleichzeitig erinnert die Laufenberg´sche Verbindungslosigkeit an eine Geschichte voller Gegensätze, wie etwa der plötzlichen, gewaltigen und gewalttätigen Verwandlung der Hagia Sofia von einer christlichen Kirche in eine Moschee und mit ihr die geistige Umpolung eines halben Kontinents.
Richard Wagner selbst stand bekanntlich religionskritisches und revolutionäres Gedankengut nicht fern. Den Aspekt des „Komponisten als Revolutionär“ greift Laufenberg auf und stellt den Kontext zur gegenwärtigen politischen Lage dar, der ihm mit den Attentaten in Bayern beinahe gespenstisch zum Zeitpunkt der Premiere bestätigt wurde. Dieser Parsifal wäre des Meisters Gemüt näher als jegliche Interpretation, die „Gewalt als Durchsetzungsmittel von Ideen“ außer Acht lässt. Den Speer beziehungsweise das Maschinengewehr als Waffe oder aber zum Schutz einzusetzen, spiegelt die individuelle Entscheidung und philosophische Grundeinstellung eines jeden Menschen oder jeder Regierung. Die Waffe ist ein Instrument der Tat und diese das Instrument von Absicht. Und hierum geht es bei Wagner nicht wenig. Die bewaffneten Amerikanischen Soldaten stehen für „Fal Parsi“, den „törichten Reinen“. Sie agieren naiv und scheinbar töricht, aktuell noch unwissend, ob als Bringer von Frieden oder Tod.
Kunstgeschichtliche Bilder transportieren Geschichte
Im Vergleich zu den anderen Bayreuther Wagnerproduktionen setzt Laufenberg bildtechnische Diversität sensibel ein. Schon die erste Szene bringt einen von vielen gestalteten Akzenten. Wahrlich „im“ Licht der Gemälde des klassizistischen Malers Jacques-Louis David (1748) wird der erste Akt eingeläutet. Ein Individuum, ein Flüchtling, sieht fragend in den durch das Fenster des Flüchtlingslagers dringenden Lichtstrahl. Der Dialog zwischen irdischer Sphäre von Ort-Zeit und der Unendlichkeit kann beginnen.
Laufenberg arbeitet mit einer Reihe von kunstgeschichtlichen Bildern. Der stehende totenbleiche Christus, umgeben von eingeweihten Personen, ist in der mittelalterlichen Kunstgeschichte ein Begriff. Um 1350 wird in der Malerei die essentielle Ikone – der Gral – abgelöst von einer szenischen Darstellung der jeweiligen Gottgestalt (Christus oder Maria) umgeben von „Attributen“ in Form von Heiligen, später auch Anhängern, einhundert Jahre später sind es die weltlichen Bildsponsoren und zuletzt sogar einfache Gläubige. Die Ikone, der Gral, wird nun verflüssigt. In seinen Christus-Szenen bevorzugt Laufenberg die Analogie zu dieser Übergangsphase um 1350. Christus steht da, nicht etwa wie die ewig lebende Ikone, sondern in einem Übergangszustand zwischen Leben und Tod – als Mensch und Gott zugleich. Analog gehört Amfortas als Gralsrepräsentant der göttlichen Sphäre an, erfüllt jedoch seine Aufgabe zunächst nicht und fällt in die Sphäre des einfachen Menschen herab. Auch hier reflektiert Laufenberg die Freiheit jedes Einzelnen zu entscheiden, welcher der beiden Sphären er angehören will. Eine solche Übergangsphase trägt ein ambivalentes Moment der Möglichkeit zur Entscheidung in sich, das Laufenberg in der Gegenwartsgeschichte (Politik) wiedererkennen mag. Die Geschichte kann den Gral ehren und in seiner Form an die folgenden Generationen rituell weitergeben und so verewigen oder sie kann ihn aus dem Raum in die Zeit verflüssigen und so verflachen. Verflüssigen ist Vervielfältigen – ein Element, das der Zuschauer in Klingsors Galerie von allerlei Kreuzen wiederfindet.
Durch Auflösung gealterter Protagonistengesichter, die sich auf einem digitalen Christusleintuch abzeichnen und bald in den Weltraum entschwinden, ergänzt Gérard Naziris die Inszenierung medial. Laufenberg und Naziri lassen konkrete weltlich rituelle Lebenssituationen digital in den Raum entschwinden, vorbei an Planeten und Sonne in die Unendlichkeit und verbildlichen so Richard Wagners Vorgabe „Zum Raum wird die Zeit“. Dass dies einer der Kritiker als „Zum Ort wird die Zeit“ wiedergab, entblöste sein Missverständnis einer Grundthese des Wagnerwerkes.
Figuren
Christus, Priester, Hexe, Magier, der unschuldige Tor, ein Gurnemanz, der geradewegs aus Berlin in die Szene gekommen sein könnte, Soldaten, Flüchtlinge einschließlich des Jungen in der blauen Hose, der 2015 tot an die Küste gespült wurde und so zum Inbegriff der Mitleidswelle in Europa und der Welt wurde. Seine Figuren gestaltet Laufenberg plastisch und konkret, zeigt ihre Gegenwärtigkeit und ihren Symbolismus zugleich und lässt, wie kein Anderer, den Sängern Raum, ihre Rolle selbst zu füllen. Nur die Erscheinung Gottes belässt der Regisseur als solche, das sich entfaltende Geschehen von oben beobachtend. Es bliebe dabei viel zur Darstellung der Frauengestalten bei Laufenberg zu sagen. Die Kunst der verführenden Verwandlung der Frau im Islam mag bei dem Kölner-Wiesbadener Regisseur auf höherer Ebene das jehe Machtspiel zwischen Islam und Christentum andeuten. Auf mittlerer Ebene, als Weib, sind sie mal verschleiert, mal bar, eine spielerische Kunst, die die Frau der westlichen Moderne längst verloren hat. Analog hat es die aufgeklärte Gesellschaft verlernt, zwischen den Realitäten zu wechseln. Es ist einfacher geworden, Dinge festzunageln, als sich ihrem subtilen Spiel aktiv zu orientieren.
Der Ausweg
Der Paradiesgarten am Ende ist ein künstlich geschaffener, außerweltlicher, für manches Auge auch ein kitschiger, jedoch, ganz nach der Vorstellung Richard Wagners, ein Ort der Erlösung durch die Kunst. Hier gibt es keine prüden Kontrollinstanzen, die Natur verdrängen. Hier ist freies Schaffen möglich. Der Gralsweg ist der Lebensweg, individuell erscheint er in unendlich vielen Formen. Für Richard Wagner liegt er in der Kunst. Sein Leben ist Kunst, dort liegt seine Freiheit und seine Läuterung der alltäglichen Gegebenheiten seines Lebens. „Wer ist der Gral?“ „das sagt sich nicht.“ Es ist in seiner Individualität und Mystik nicht in konkrete Worte zu fassen. Und so ist es auch mit der Gestalt hoch oben über allem Geschehen. Der rationalisierte Mensch sucht wie der Heilige Thomas alles zu ergründen. Anstatt des Fingers in der Wunde hat er heute eine Kamera beinahe schon in privaten Bereichen oder eben Worte, die das Mysteriöse in die Ecke treiben, um es unbedingt zu verbalisieren.
Am Rande sei überlegend in den Raum gestellt, dass beziehungsweise ob ein Regisseur Wagners Werk besser ergreifen und darstellen mag als ein Künstler. Die Raum und Ort-Zeit-Dimension zu verbildlichen ist beider Aufgabe. Das Erzählerische und das Ikonische aus Bild, Text und Musik zu verbinden und wieder aufzulösen, mag einem zeitgenössischen Konzept-Künstler jedoch weniger gelingen als einem versierten Theatermann. Oder auch nicht – wie in allem kommt es auf die individuelle Disposition an.
Wer Laufenbergs Version des Parsifal kritisiert, sollte den Fehler bei sich selbst suchen. Denn wer diese Inszenierung als „leer und flach“ erachtet, sieht selbst nicht tief genug.
Laufenbergs Parsifal gehört auf ausländische Bühnen. Es ist kein Werk für die vom deutschen Regietheater verpestete Kritikerlandschaft. Es benötigt – hier oder andernorts – einen international bewanderten Zuschauer, einen weniger globalisierten als Renaissance-haften, der mehr als eine Dimension erfassen kann und Stofflichkeit fühlt, auch wenn sie nicht augenscheinlich ist. Und so bleibt mit Wagners Parsifal manchmal zu fragen, ob selbst ein unschuldiger Tor nicht näher an der Wahrheit wäre als alle Gelehrten zusammen.
Musikalisch
Unter den Sängern brillierte Elena Pankrátová als Kundry. Klaus Floria Vogt stellte, vor seiner Erkrankung, einen perfekten Verirrten dar. Wer sich jedoch an Peter Hofmann erinnert, wird stimmlich seines Gleichen suchen. Für die schauspielerische Darstellung der Sänger kann man allgemein konstatieren, dass sie die sängerische Kunst etwas überschattete. Hartmut Haehnchen, der für den plötzlich abgereisten Andrise Nelson einsprang, ist in Bayreuth kein Neuling. Bereits 1970 hospitierte er bei Pierre Boulez und kennt den Parsifal sehr gut. Die Befürchtungen um seine Rationalität in der Auslegung der Wagneroper haben sich nicht bestätigt. Trotz seiner kritischen Distanzierung zu Laufenbergs „religiöser Interpretation“, stimmte das Werk des Dirigenten und des Regisseurs interessanterweise wunderbar. Das Publikum hielt lange den Atem an, bevor sein Applaus losstürmte.
Gabriela Jurosz-Landa ist Kunstkritikerin und Ethnologin, eingeschworene Maya-Priesterin. Sie lebt in New York, Guatemala, Prag und Bayreuth.