In nur wenigen Tagen drei Anschläge auf bayerischem Boden, alle von jungen Männern mit islamischem Hintergrund. Kein Wunder also, dass rechtskonservativ bis rechtsextreme Stimmen immer mehr Gehör finden, wenn sie sagen, der IS schleuse seine Terroristen als Flüchtlinge getarnt nach Europa ein und deshalb dürfe keiner mehr reingelassen werden und alle müssen bis ins kleinste Detail überwacht werden. Aber so einfach ist das leider nicht. Macht man sich die Mühe und schaut sich die drei Fälle genauer an, ergibt sich ein ganz anderes Bild:
Würzburg: Der minderjährige Täter, der in einem Regionalzug mit Messer und Axt auf Touristen losging, soll sich in kürzester Zeit radikalisiert und aus „politischen Motiven“ gehandelt haben. Es ist also erst passiert, als er schon hier war. Offensichtlich hat eine Aufnahme in eine Gemeinschaft, in der man sich geborgen fühlt und Schutz findet, nicht geklappt. Warum sonst hätte er dann damit begonnen, sich für radikal islamische Gruppen zu interessieren? „Politisch motiviert“ so kann man es auch nennen, wenn man nach der Flucht vor Gewalt und Elend traumatisiert keine Hilfe findet, mit seinen eigenen Emotionen nicht mehr zurecht kommt und Hilfe offensichtlich nur noch bei radikalen Gruppen findet.
München: der dort aufgewachsene Deutsch-Iraner war bereits wegen Depressionen in psychologischer Behandlung, im übrigen ohne dass bemerkt wurde, dass er sich schon seit längerer Zeit mit Amokläufen beschäftigte. Laut eigener Aussage wurde er gemobbt und litt darunter. Das Mobbing muss offensichtlich fremdenfeindlicher Natur gewesen sein, denn sonst hätte er seinen Frust nicht an „Ausländern“ ausgelassen, die er gezielt zum Tatort per Facebook einlud, um sie dann zu töten. „Wegen Euch musste ich jahrelang leiden“ schrie er kurz vor der Tat.
Ansbach: auch hier war der Täter in Bayern in psychologische Behandlung gewesen. Er kam vor zwei Jahren über Bulgarien. Dort war er inhaftiert und misshandelt worden. Seine Frau und Kind sind nach eigenen Angaben im Krieg in Syrien gestorben, er selber wurde dort vom Assad-Regime und Al Kaida mehrmals festgenommen, weil er Videos von Demonstrationen veröffentlicht hatte, seine Eltern saßen dort im Gefängnis, weil sie gegen die Regierung protestiert hatten. Bei Ankunft in Bayern ersuchte er Asyl und gab zu Protokoll, dass er Angst habe, nach Syrien zurückzukehren, weil er dort zum Mörder werden könnte. Wen wundert das wirklich? Trotzdem sollte er abgeschoben werden.
In allen drei Fällen scheint die „Radikalisierung“ hier in Europa stattgefunden zu haben. Zwei von ihnen waren sogar in psychologischer Behandlung. Die kann offensichtlich nicht sehr erfolgreich gewesen sein, sonst wäre es nicht soweit gekommen. Und die Tatsache, dass der IS die Attentate nur all zu gerne auf sein eigenes Konto verbucht, sagt nichts darüber aus, ob tatsächlich ein direkter Kontakt mit Rekrutierung, Training usw. stattfand. Der IS braucht noch nicht einmal Werbung zu machen, sondern bloß abzuwarten, bis die Neuankömmlinge in Europa, auf eigene Kosten und Gefahr angereist, durch bürokratische Schikanen, fehlende Fürsorge und Fremdenfeindlichkeit (755 Angriffe auf Asylsuchende und ihre Unterkünfte seit Januar 2015) mürbe gemacht, bereit sind, per Internet und soziale Medien „gebrieft“ und dann „eingesetzt“ zu werden. Und genau so scheint es momentan zu laufen.
Es muss doch inzwischen auch dem Letzten in dieser sogenannten „westlichen“ Gesellschaft klar sein, dass alles, was da heute passiert, die Folge der globalen Politik der letzten Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte ist. Ob nun koordiniert von dem mysteriösen 1% oder einfach nur durch ein außer Kontrolle geratenes System, dass seinem eigenen Credo des unendlichen Wachstum nachhechelnd auf den Abgrund zurast: das Plündern und Ausbluten der südlichen Hemisphäre für den Reichtum der nördlichen hat den Wendepunkt erreicht, der berühmte letzte Tropfen hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Die Flüchtlingswelle rollt, laut Zahlen von Amnesty International sind zur Zeit fast 20 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht und davon sind noch nicht mal 15 % in Europa oder der westlichen Welt angekommen. Der Großteil befindet sich noch in den die Krisenherde umgebenden Ländern. Und nachdem westliche Politiker das Prinzip der Korruption jahrelang in all diese Länder exportiert haben, hat auch das viel zitierte „Den Menschen in ihren Ländern helfen“ keinen Sinn mehr, denn dafür ist es schon lange zu spät.
Wie also stellt sich die Politik die nächsten 10 oder 20 Jahre vor? Mauern hoch und alle anderen verrecken lassen? Einen Diktatoren dafür bezahlen, dass er niemand nach Europa lässt und der wiederum die Kurden bekämpft, die die einzig ernstzunehmende lokale Resistenz zum IS darstellen? Weiterhin Ressourcen plündern, Waffen produzieren, Bomben werfen? Laut einem Bericht der holländischen NGO Stop Wapenhandel sind genau die Produzenten, die das Equipment und die Überwachungstechnologie für europäische Sicherheitskontrollen und Grenzsicherungen liefern, auch diejenigen, die von der Flüchtlingskrise am meisten profitieren. Zufällig sind sie auch die größten Waffenlieferanten in diese Krisenregionen.
Apropos Überwachung: Alle drei Täter haben sich hier in Europa radikalisiert ohne, dass es jemand bemerkt hat, und bei allen geschah dies dem Anschein nach wohl hauptsächlich über soziale Medien und das Internet. Wieso ist es in Zeiten von NSA-Skandalen und globaler Datenkontrolle nicht möglich, radikal-islamische Webseiten und Facebook-Profile ausfindig zu machen und diese zu schließen? Das Handy der Kanzlerin kann abgehört werden, aber nicht die vom IS? Die EU will uns die Netzneutralität nehmen, aber Internetseiten wie das offizielle Magazin des Islamischen Staates, auf dem Attentate „glorreich“ publiziert werden, egal ob sie tatsächlich aufs eigene Konto gehen oder nicht, können nicht geschlossen werden? Irgendwas kann hier nicht stimmen.
Wir fassen zusammen: der „Westen“, aufgrund historischer Fakten wie Kreuzzüge, Sklavenhandel, Ressourcenplünderung usw. reich geworden, spielt Jahrzehnte lang geopolitische Spielchen, zieht willkürlich Grenzen (man sehe sich nur den Mittleren Osten im Atlas an), finanziert Diktatoren an die Macht und bombt diese wieder raus, wenn sie nicht mehr mitspielen, übersät die gesamte Region mit Waffen und wundert sich dann, wenn diese in die Hände des IS geraten. Menschen, die dann vor all diesem Terror fliehen, riskieren ihr Leben, um nach Europa zu kommen, sind bereits durch Krieg, Tod von Familienangehörigen und Elend hochgradig traumatisiert, werden hier abgelehnt oder „geduldet“, erleben Fremdenfeindlichkeit und kalte Bürokratie und wenn sie dann noch psychische Probleme bekommen, werden sie wieder rausgeschmissen und ihrem Schicksal überlassen oder sie sprengen sich eben davor hier bei uns in die Luft, was dann wiederum den absoluten Sicherheitsstaat rechtfertigt und den IS nährt?
Es gibt nur eine einzige Antwort. Und die heißt hinschauen, sich kümmern, zuhören, verstehen, helfen, aufnehmen, integrieren, den anderen in seiner Menschlichkeit erkennen. Man kann es auch Empathie nennen oder menschliche Wärme. Oder auch ganz einfach nur Liebe. Denn sie ist die größte Kraft, die es gibt. Und mit ihr muss auch das gesamte System der Gewalt und Korruption reformiert werden, das von wenigen für wenige geschaffen wurde. Nicht nur Flüchtlinge sind Opfer dieses Systems, sondern auch wir: Abbau des Sozialstaates, Übernahme der Demokratien durch Multinationale Unternehmen, wachsende Schere zwischen Arm und Reich, Klimawandel, Lebensmittelskandale, Lobbyismus, Korruption… Profite um jeden Preis, auf Kosten der Menschen, der Gesundheit und des Planeten.
Es ist höchste Zeit. Krisen sind immer auch Chancen. Und diese Krise hat gerade erst begonnen, ein Zurück gibt es nicht mehr. Also nutzen wir sie und bauen wir eine neue Welt der Menschlichkeit.
Auf politischem Niveau: Basisdemokratie, Selbstverwaltung von Städten und Gemeinden, Haftbarkeit von Politikern. Auf wirtschaftlichem Niveau: neue Währungsordnung, bedingungsloses Grundeinkommen, ökologisch-nachhaltige Landwirtschaft, um nur einige zu nennen. Und im täglichen Leben: sich auf das Gute konzentrieren, die anderen so behandeln, wie man selbst auch behandelt werden möchte. Vor allem aber: das Herz öffnen für die, die Hilfe brauchen. Jeder hat die Wahl.
„Wer die Liebe nicht sucht, sucht den Tod. Nur dort ist Leben, wo Liebe ist.“
Safi Nidiaye