Gott ist tot. So heißt es im Aphorismus 125 von Friedrich Nietzsche in seiner Fröhlichen Wissenschaft. Die Konsequenz: eine Theologie ohne Gott und Gläubige ohne Gott.
Das Alles trifft sehr wohl auf die Philosophie des Abendlandes zu, dachte ich in meinen Jugendjahren. Und das Werk von Karl Löwith „Von Hegel zu Nietzsche“ überzeugte mich noch mehr davon. Ich dachte, der Tod Gottes wäre ein typisches Problem des Abendlandes.
Aber heute, nach dem zigsten terroristischen Anschlag auf Zivilisten in der Türkei denke ich daran, wie auch Allah tot ist. Und er bleibt tot. Und sie haben ihn getötet.
Die Konsequenz: eine islamische Theologie und Gläubige ohne Allah.
Genauso lässt sich meiner Meinung nach der selbstbenannte „Islamische Staat“, das sogenannte syrisch-irakische Sunnistan des islamischen Atheismus und Nihilismus am besten erklären. Denn positiv-theologische Erklärungen des Phänomens bleiben aus. Und das Phänomen ganz von der islamischen Religion loszulösen wäre irrational und verantwortungslos, denn die Kämpfer des Islamischen Staates nennen sich Muslime, berufen sich auf den Islam und den Koran und halten sich sogar für bessere Muslime, die den Maßstab des Islam festlegen.
Eine Theologie ohne Gott bedeutet in einem monotheistischen Kontext ohne Zweifel eine Theologie ohne Schöpfer und somit ohne Leben, denn im Monotheismus und somit auch im Islam ist Allah der Schöpfer (haliq) und die Quelle des Lebens. Und diese IS-Theologie ohne Gott widerspricht vehement einem der wichtigsten Grundsätze des Islam, der wie folgt lautet:
Sure 5, Vers 32: „(…) Wenn jemand einen Menschen tötet (…), so ist es, als hätte er die ganze Menschheit getötet; und wenn jemand einem Menschen das Leben erhält, so ist es, als hätte er der ganzen Menschheit das Leben erhalten.“
Wenn nun der Islam Leben und Glaube an Allah, den Schöpfer des Lebens bedeutet, so bedeutet der Anti-Islam den Nihilismus und die Tötung der Idee Allahs, des Spenders des Lebens und des Einzigen, Alleinigen Schöpfers, “im Namen dessen” gelesen und gesprochen werden soll. “Iqra” (lese) und “qul” (sage) sind zwei zentrale, monotheistische Aufrufe an alle Muslime im Namen des Lebens und des Islam als Unterordnung der Weltordnung Allahs.
Wer hingegen willkürlich tötet, verstößt gegen Allahs Weltordnung und unterwirft sich dem Vakuum, das er in die Welt geschossen hat. Die Selbsttötung ist in dieser nihilistischen Weltanschauung als das logische Ergebnis der Tötung Allahs zu sehen. Und der Tötung Allahs folgt die vollständige Manipulierung und nekrophile Auslegung von Allahs Botschaft des Lebens und des Lichtes.
Der Jihad im Namen der Selbstverteidigung wird in einen sadistischen Angriffskrieg verwandelt, in denen alle Mittel Recht sind, um jegliche Zivilisten jeglicher Religion und Kultur einfach aus der Welt zu schaffen, weil die Tatsache, dass man sich dafür in die Luft sprengt und ins Paradies des Nihilismus katapultiert wird, schon Begründung genug ist. Und je unschuldiger der Getötete, desto besser. Denn es geht diesen Killern einer selbsternannten „Takfirsekte“ darum, sich selbst als „die“ Muslime über die anderen, „üblichen“ Muslime, die nach dem Prinzip des Monotheismus und des bescheidenen Lebens die Anderen mit „Salam“ begrüßen, ohne sich als Anti-Helden eines verdrehten Islams zu inszenieren, zu stellen.
Der nihilistische Antiislam ohne Allah ist aber ein Teil von uns, ein Teil einer muslimischen Gesellschaft, zu der alle Muslime gehören, da diese nihilistischen Töter Allahs zur Umma gehören, ob wir es nun wollen oder nicht. Wir sind somit als Muslime als Erste verantwortlich dafür, die Ursachen dieses Problemkomplexes zu ermitteln und zu beseitigen. Und wir sind verantwortlich dafür, weil wir an Allah, ar-rahman ar-rahim ar-ghafur glauben.
Und Ursachen für diese Symptome eines selbsternannten Kalifats von Gottesmördern gibt es bedauerlicherweise sehr viele und sehr diversifizierte: einerseits sind es die geopolitischen, wirtschaftlichen und soziologischen Bedingungen der Länder, für die sich diese Menschen „ihrer Überzeugung nach“einsetzen, um den Menschen vor Ort zu einer gerechten und muslimisch ausgerichteten Weltordnung zu verschaffen. Geopolitisch ist die gesamte Nahostregion das traurige Ergebnis eines post- und neokolonialistischen Aufteilungsplans, der Millionen Menschen in die Armut, Enteignung, Unsicherheit und in die ethnische und sektarische Spaltung getrieben hat. Denn mit Allah stirbt auch die multikulturelle und tolerante Umma, die Anerkennung der Diversität nach Koran 5.48, wo es heißt:
„O ihr Menschen, Wir haben euch ja von einem männlichen und einem weiblichen Wesen erschaffen, und Wir haben euch zu Völkern und Stämmen gemacht, damit ihr einander kennenlernt. Gewiß, der Geehrteste von euch bei Allah ist der Gottesfürchtigste von euch. Gewiß, Allah ist Allwissend und Allkundig.“
Andererseits sind weder der Marxismus noch der Neoliberalismus die geeignete wirtschaftliche Lösung für die Region, da der Islam seine eigenen wirtschaftlichen Lösungen hat. Des Weiteren erzeugen der zionistische Kolonialismus und sein US-Verbündeter, der dem Apartheidstaat Israel mit allen Mitteln zur Straffreiheit verhilft, extreme Frustrationen in der muslimischen Welt des Nahen Ostens, die an sich schon in einer tiefen Existenzkrise steckt.
Chancengleichheit für alle, Berufschancen für Jugendliche, Frauenempowerment, Bildung für alle sind eine Utopie in einer Region, die sich bereits aufgegeben hat und das Wort „inschallah“ nur noch im Fatalismus ertrinken lässt. Aber es gibt auch eine dynamische Auslegung des Begriffs „inschallah“, die diesen Menschen ihr Selbstbewusstsein zurückgeben kann. Denn meiner Meinung nach ist der Begriff „inschallah“ auf der Grundlage des Verses 11 der Sure al-Rad auszulegen, in der es heißt: “…Allah ändert nicht den Zustand eines Volkes, bis sie das ändern, was in ihnen selbst ist..” In diesem Sinne bedeutet der Islam Dynamik, Auseinandersetzung mit den Problemen, Optimismus und auch seelischer Kampf für das Gute und die Gerechtigkeit, das Leben und die Barmherzigkeit.
Der Westen destabilisiert fortlaufend die Region. Westliche Geheimdienste, islamophobe Gruppierungen und westlicher Kulturkolonialismus werden dafür verantwortlich gemacht. Diese Situation rechtfertigt im Kopf dieser „verirrten“ Menschen den Krieg gegen alles und alle: die Muslime müssen sterben, weil sie sich des Tafkir schuldig gemacht haben, die Menschen im Westen müssen sterben, weil sie auf der Seite der Kolonialisten stehen und die muslimische Welt zu dem gemacht haben, was sie nun ist.
Wo bleibt die Lösung? Im Verständnis der Psychologie des Terroristen und in der Bekämpfung des externen Neokolonialismus und der Verbindung zwischen Militarismus und Kapital und des Nihilismus und der Radikalisierung junger Menschen in den muslimischen Gesellschaften, in denen sie sich selbst in einem Vakuum sehen, in dem Allah, der Schöpfer allen Lebens nicht mehr vorkommt.
Es braucht dringend ein sozio-pädagogisches Programm des Dialogs, das weltweit umgesetzt wird, um Muslime und Nicht-Muslime zusammenzubringen und der Radikalisierung junger Muslime vorzubeugen. Radikalisierung sollte man vielleicht mehr als Vakuumisierung und Nihilismus bezeichnen. Leider hat jede Religion auch ihren Nihilismus. Und so hat jede Religion auch ihre Gottesmörder. Und dies gilt auch für den Islam und die muslimische Gemeinde, vor allem in dieser schweren Zeit blinder Gewalt gegen unschuldige Zivilisten.
Den Problemkomplex „IS“, „DAESH“ und seiner „Gottesmörder“ kann man nur durch den präventiven Dialog lösen. Zu diesem präventiven Dialog gehört aber auch der überzeugte Kampf gegen den Militarismus des Westens, der Verbindung zwischen Rüstungsindustrie, Kapital, Zionismus, Neukolonialismus und Kriegen im Nahen Osten und der konstruktive Kampf gegen die Islamfeindlichkeit durch den Dialog über den Islam zwischen Menschen und gesellschaftlichen Gruppen.
Was aber nicht außer Acht gelassen werden darf, ist, dass diese Aufgabe eine Aufgabe der gesamten Gesellschaft weltweit ist, der Muslime und Nicht-Muslime. Denn nur durch Verantwortung und das Involvieren aller in diesen Problemkomplex, der uns alle was angeht, können wir eine wahre, nachhaltige Lösung für Nahost und für die Welt anstreben. Es wird ein langwieriger und harter Prozess, aber wenn wir nicht damit anfangen, dieses Vakuum mit Menschlichkeit und Leben zu füllen, werden immer neue Gottesmörder am Horizont erscheinen und neue Namen annehmen.
Die praktische Terrorismusbekämpfung der Nationalstaaten reicht nicht aus. Die Lösung des Problems besteht nicht darin, Terroristen abzuknallen. Das ist nur das Endergebnis dieser Manifestation des Vakuums und die Reaktion des Staates, wenn sich Terrorist und Polizist in der Sackgasse vor der Mauer des Nihilismus ein letztes Mal in die Augen sehen.
Es geht aber darum, die selbsternannten Gotteskrieger davon abzuhalten, die Lebenskultur des Islam und somit Allah zu töten und nicht nur darum, sie zu töten, nachdem ihr Verirrungsprozess das verfehlte Ziel erreicht hat und sie vor dieser hohen Wand in der Sackgasse verbluten.
Dafür braucht es aber eine sozio-politisch engagierte Zivilgesellschaft. Sicherheit und Polizei, Spezialeinheiten und Terrorismusbekämpfung, Militär, „Infiltration“ und Training von Geheimdiensten und Terrorismusexperten vor Ort reichen nicht aus, denn sie zerschlagen nur die Symptome. Denn wären sie ausreichend, gäbe es keinen Terror mehr. Aber es gibt keinen erfolgreichen Krieg des Staates gegen die Ursachen des Terrors, sondern nur gegen die sichtbaren Symptome, wenn wild durch die Gegend geschossen wird und die ersten Täter und die ersten Opfer auf dem Marmorboden des Flughafens liegen.
Die Ursachen des Terrorismus lassen sich nur durch Inklusion, Erziehung, Bildung, wirtschaftliche und soziale Entwicklung, Chancengleichheit und Empowerment der Zivilgesellschaft als ganze beseitigen. Das Gegenteil des Nihilismus ist der Humanismus, ein Humanismus, der sich in allen Religionen und Kulturen wiederfindet und somit auch alle Vakuums mit Leben füllen kann, ein Leben, das im Islam von Allah kommt und zu Allah zurückkehrt. Denn wie Johann Wolfgang Goethe so schön sagte:
„Wenn Islam Gott ergeben heißt, im Islam leben und sterben wir alle“.
Zum Abschluss möchte ich noch den Lichtvers aus dem Koran (Sure 24:35) anführen, der für mich die Art und Weise wiederspiegelt, wie Muslime durchs Leben und durch diese Welt, ohne diametrale Gegenüberstellung zwischen Morgen- und Abendland, gehen sollten:
„Gott ist das Licht der Himmel und der Erde. Sein Licht ist einer Nische vergleichbar, in der eine Lampe ist. Die Lampe ist in einem Glas. Das Glas ist, als wäre es ein funkelnder Stern. Es wird angezündet von einem gesegneten Baum, einem Ölbaum, weder östlich noch westlich, dessen Öl fast schon leuchtet, auch ohne dass das Feuer es berührt hätte. Licht über Licht. Gott führt zu seinem Licht, wen Er will, und Gott führt den Menschen die Gleichnisse an. Und Gott weiß über alle Dinge Bescheid.”