Wir leben in einer dynamischen, beschleunigten Welt. Was die futuristische Bewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts so lobte, war die Geschwindigkeit. Sie war in den Rennwagen jener Zeit verkörpert und regte die Phantasie futuristischer Künstler und Schriftsteller an. Anbei der Lobgesang von F.T. Marinetti auf die technische Beschleunigung, die er in seinem Manifest zur ästhetischen Dimension des Lebens erhebt: „Wir behaupten, dass die Herrlichkeit der Welt sich um eine neue Schönheit bereichert hat: die Schönheit der Geschwindigkeit.“
Aber diese Dynamik zeigte bald ihre negativen Seiten: Aufrüstung um jeden Preis, Blitzkrieg, beschleunigte, wissenschaftliche Tötung, Überproduktion, Technologisierung gesamter Lebensbereiche und Gleichgültigkeit in ethischen, sozialen und menschenrechtlichen Fragen. Dieselbe Beschleunigung im negativen Sinne erfährt auch der Journalismus, der sich mit dieser Welt auseinandersetzt. Er wird so zum Spiegel der beschleunigten Welt und reagiert nur noch in Form passiver Eilmeldungen auf sie. Immer weniger Journalisten schreiben in immer weniger Zeit immer mehr Nachrichten.
Und da kommt natürlich die Zeit für die Recherche, Ursachenforschung, ethische Verantwortlichkeit und Lösungsorientierung zu kurz. Krieg, Terrorismus, Kriminalität, Menschenrechtsverletzungen und Gewalt jeglicher Art sind die Hauptthemen, mit denen sich diese Welt der recherchefreien Eilmeldungen befasst. Ausweglos negative Nachrichten machen Schlagzeilen, während positive Nachrichten mit konstruktiven Lösungsansätzen verdrängt werden. Eine endlose Reihe erschütternder Eilmeldungen überschwemmt im Sekundentakt Onlinenachrichtenportale und soziale Medien. Das Geschehen wird nicht verarbeitet, sondern nur passiv rezipiert und erneut in die Welt geschossen, in der es einen Boomerangeffekt erzeugt, der visuell und akustisch (durch Bilder, Videos, gesprochene Texte oder Musik, Geräusche, u. ä.) noch verstärkt wird.
Was kommt dem traditionellen Journalismus auf diese Weise abhanden? Ich würde sagen, alles. Die wichtigsten Aspekte dieses beschleunigten Journalismus sind zweifelsohne der Mangel an ethischem und deontologischem Verständnis und die unzureichende Ursachenforschung, die den Journalismus in einem zweifachen Sinne betreffen: einerseits den Journalismus als Zeitungs- und Pressewesen, der extreme Qualitätseinbußen erfährt und seiner ethischen und sozio-politischen Aufgabe nicht mehr gerecht wird, und andererseits die Tätigkeiten und Handlungen der einzelnen JournalistInnen, die sich dieser irrationalen Herausforderung stellen und an ihr zerbrechen.
Im Folgenden möchte ich zwei wesentlichen Fragestellungen zum Thema nachgehen: Welche sind die ethischen und Forschungsanforderungen an den Qualitätsjournalismus? Wie kann man diesen Qualitätsjournalismus trotz der derzeitigen Hindernisse wieder zum Erfolg führen?
Ethik ist für mich ein grundlegender Begriff, wenn es um Journalismus und um alles geht, was mit Wort, Dialektik, Dialog, Reflexion und Kommunikation zu tun hat. Worte bewegen sehr viel, und gerade wer an die Macht der Worte und den so wesentlichen, massenpsychologischen Einfluss der „Massenmedien“ glaubt, muss die Ethik zur unerlässlichen Grundlage seines Handelns machen, um zu vermeiden, dass Worte zu menschenverachtenden Unworten oder sinnentleerten, apathischen, verbalen Hüllen werden. Denn das Gegenteil von Wort, Dialog, Kommunikation und Reflexion sind Gewalt, Nihilismus, Konflikt und Krieg.
Qualitätsjournalismus meint einen Journalismus mit einem wortwörtlichen ethischen Filter als primärem, berufsethischem Instrument. An dieser Stelle spielt die zeitliche Dimension eine wesentliche Rolle. Der ethische Filter hängt nämlich mit der zeitlichen Dimension der Reflexion über mich als Journalistin, über den Gegenstand meiner Recherche und meine persönliche und ethische Beziehung zu diesem Gegenstand-Subjekt, wie ich im Folgenden anhand von Edward Saids These aufzeigen werde, zusammen.
Daraus folgt, dass nur ein langsamer Journalismus auch qualitativ sein kann, da JournalistInnen keine passiven RezipientInnen sind, die Informationen aufnehmen und wiederkäuen, um sie in laute sensationelle Nachrichten zu verwandeln, sondern ethisch reflektierende und handelnde Menschen, die sich mit der Dimension des „Du“ im Sinne des jüdisch-französischen Philosophen Emanuel Lévinas auseinandersetzen. Und dieses „Du“ findet sich im Spiegel der Ereignisse, Menschen, des Weltgeschehens und der eigenen Wertewelt wieder.
Die humanistische Ethik des Journalismus basiert auf der Wahrung der Menschlichkeit und Würde des Anderen
Die Ethik ist ein kulturell, religiös, philosophisch und soziologisch sehr unterschiedlicher, dehnbarer und auch manipulierbarer Begriff. Dies gestaltet die journalistische Arbeit komplexer und gefährlicher: denn sie bewegt Menschen, erreicht Massen, verstärkt Emotionen und beeinflusst großflächig die öffentliche Meinung. Ethik bedeutet einerseits Diversität, wenn man von der Welt ausgeht und andererseits absolute Normativität, wenn man die Sichtweise des Einzelnen zum Maßstab erhebt.
Alle Menschen haben aber, unabhängig von ihren kulturellen, ethnischen, religiösen, sozialen und wirtschaftlichen Unterschieden, die Menschlichkeit gemeinsam. Daraus folgt für mich, dass Qualitätsjournalismus ein langsamer Journalismus mit einem humanistischen, ethischen Filter sein muss, der sich dann je nach Kultur, Religion, Orientierung und sozio-politischer Sichtweise anders „dekliniert“, ohne sich deshalb zu entwurzeln. Die humanistische Ethik des Journalismus basiert auf der Wahrung der Menschlichkeit und Würde des Anderen und umfasst somit die Menschenrechte aller Weltbürger, unabhängig von der „Deklination“ ihrer Kultur, Sprache, Religion und Gruppenzugehörigkeit, gesellschaftlichen Stellung, Hautfarbe, Fähigkeit, ihres Talents und ihrer Kompetenz.
Somit basieren die vorbereitende Recherche und Ursachenforschung, die Verfassung des Artikels, seine Korrektur und Verbreitung im langsamen Qualitätsjournalismus auf dem Grundprinzip der Menschlichkeit des Anderen, seiner Welt und somit der im Artikel darzustellenden Thematik, die nur ethisch und humanistisch angegangen werden darf. Dies gilt meiner Meinung nach im Besonderen für den Journalismus rund um Themen wie Flüchtlingskrise, Terrorismus, Krieg, Nord-Süd-Gefälle, Feminismus und interkulturelle Frauenrechte und Grenzen der Pressefreiheit.
Der langsame Journalismus setzt sich mit Hilfe seines ethischen Filters auch seine eigenen Grenzen, denn meine Freiheit hört dort auf, wo die Freiheit, Würde und Menschlichkeit des Anderen (meines Subjekts) anfangen.
Den Qualitätsjournalismus sehe ich auch als antikolonialistischen Journalismus im Sinne von Edward Saids Thesen in Orientalism und als pazifistischen und anti-rassistischen Journalismus, da er den „Anderen“ nicht als Objekt seiner Wahrnehmung, seiner eigenen Vorurteile und ethnozentrischen Standpunkte ansieht, sondern als gleichwertiges „Du“ betrachtet, zu dem man eine dialektische und wahre Beziehung aufbauen kann.
Der langsame Journalismus setzt sich mit Hilfe seines ethischen Filters auch seine eigenen Grenzen, denn meine Freiheit hört dort auf, wo die Freiheit, Würde und Menschlichkeit des Anderen (meines Subjekts) anfangen. Wie kann man nun als JournalistInnen dem schnellen Journalismus auf dieser Grundlage am besten entgegenwirken, um den langsamen Qualitätsjournalismus als Standard zu fördern, obwohl er in unserer beschleunigten und vom Kapital bestimmten Welt zeitaufwändiger und wirtschaftlich weniger bzw. gar nicht rentabel erscheint?
In diesem Bereich stehen die langsamen JournalistInnen vor einer zweifachen, qualitativen und quantitativen Herausforderung: einerseits brauchen wir „langsame“ Journalisten, die ethisch und konstruktiv recherchieren und sich mit dem Thema in seiner „Würde“ auseinandersetzen, Texte verfassen, die keine Informationen in wiedergekäute, laute Sensationen verwandeln, und andererseits brauchen wir mehr Journalisten für weniger Artikel in mehr Zeit, weil die Zeit zur ethischen Dimension des Journalismus erhoben wird, obwohl sie sich kapital- und technologietechnisch gar nicht „bezahlt“.
Aber wie überzeugen wir McDonald-Kunden in ein raffiniertes, osmanisches Restaurant mit Gerichten aus dem 16. Jahrhundert zu wechseln? Denn der Journalismus betrifft nicht nur die Macher, sondern auch die Konsumenten. Um einen Qualitätsjournalismus durchzusetzen, müssen wir an beiden Fronten ansetzen, um sowohl die Medienwelt selbst als auch ihr Publikum davon zu überzeugen, dass Ethik, Recherche, Verantwortlichkeit, Wahrheit, Zeit und Menschenrechte den Journalismus bestimmen sollen und dass dies unabhängig von und jenseits jeglicher finanziellen Kalkulation erfolgen muss.
Die langsamen JournalistInnen befinden sich in einer neokolonialistischen, neoliberalen, vom Kapital, der Technologie und Geschwindigkeit bestimmten Welt, die globalisiert und gleichzeitig ethnozentrisch ist. In dieser Zwickmühle bleibt ihnen nur Eines übrig: sie müssen an Wunder glauben, damit sie ihnen geschehen und ihren Kampfgeist aufrechterhalten, ohne an ihren ethischen Grundsätzen, für die sie leben und arbeiten, zu rütteln. Je mehr Menschen diese Sichtweise vertreten, desto mehr schlägt der langsame Journalismus unter den Machern und Konsumenten Wellen. Die beiden Ebenen überschneiden sich immer mehr. Der Bürgerjournalismus beeinflusst den professionellen Journalismus und umgekehrt.
„Allein mit Qualitätsjournalismus kann heute niemand mehr überleben“
Verleger Hubert Burda
Solange es Menschen gibt, die diesen ethischen Filter in ihre Arbeit einbauen, stimmt die aufsehenerregende Aussage „Allein mit Qualitätsjournalismus kann heute niemand mehr überleben“ des Verlegers Hubert Burda von 2014 nicht. Denn will man sich diese Qualität leisten, so kann man sie sich auch leisten. Diese Qualität ist meine Zeit. Diese Qualität ist meine Ethik. So hart das auch klingen mag: der Tod des Qualitätsjournalismus und der Beginn des Nihilismus entsprechen meinem Verzicht als JournalistIn auf meine Ethik und auf meine Zeit. Und diesen Fehltritt Anderen zuzuschreiben, wäre ein fataler Fehler, denn er ist die logische Folge meiner Entscheidung für die Geschwindigkeit als ästhetische Dimension eines talentfreien Journalistenlebens.
Ganz im Sinne des italienischen Philosophen und Journalisten Antonio Gramsci gilt für mich im langsamen, ethischen Qualitätsjournalismus das Motto: „Was wir brauchen ist Nüchternheit: einen Pessimismus des Verstandes, einen Optimismus des Willens.“
Der langsame Journalismus ist eine Berufung, eine Grundüberzeugung, eine existentielle, ethische Haltung und eine felsenfeste Überzeugung der Würde und Gleichwertigkeit aller Menschen und somit auch aller Geschehnisse, unabhängig von ihrer, wie oben angesprochenen „Deklination“. Der langsame Journalismus bedeutet Recherche, Gründlichkeit, Verpflichtung zur Wahrheit und ethisches Zeitverständnis. Und wer daran glaubt, finanziert das. An dieser Stelle kommt das „ethische Kapital“ der Macher und Konsumenten ins Spiel. Somit macht sich Qualitätsjournalismus nicht nur bezahlt, sondern zahlt sich auch aus, wie paradox dies auch erscheinen mag.
Wir müssen uns als JournalistInnen und als Gesellschaft gleichzeitig für Pessimismus und Optimismus entscheiden und der diametralen Gegenüberstellung dieser beiden Dimensionen den Rücken zu kehren.