Von correctiv.org
und fürDie TTIP-Verhandler haben immer damit geworben, dass mit dem Abkommen Exporte leichter werden, weil die Standards in den USA und der EU angeglichen werden sollen. Unsere Recherche zeigt: Genau dieser Teil der Verhandlungen droht zu scheitern. Die Industrie setzt ihre Hoffnungen nun auf umstrittene Expertengremien.
Ein paar Meter hinter der Stadtgrenze, im Berliner Süden liegt die Firma Code Mercenaries. Guido Körber produziert dort zusammen mit acht Mitarbeitern Mikroprozessorchips für Tastaturen. Nicht für PCs oder Apple-Computer, sondern Einzelanfertigungen für Druck- oder Werkzeugmaschinen. Körber macht genau das, wofür der deutsche Mittelstand gefeiert wird: Er bietet ein hoch spezialisiertes Nischenprodukt an, mit dem er auch im Ausland erfolgreich ist. Rund 40 Prozent seiner Ware geht in andere EU-Länder, 10 Prozent liefert er an Kunden in den USA.
Flickenteppich USA
Der Export über den Atlantik könnte aber besser laufen, gäbe es nicht dieses Problem mit den amerikanischen Standards. Die USA sind ein Flickenteppich, was Zertifikate und Zulassungen von Produkten angeht. Jeder Bundesstaat kann Sicherheitsmaßstäbe selbst ausgestalten. Innerhalb der EU kann Körbers Firma nach der einheitlichen CE-Norm vermarkten. Es genügt die Angabe, sämtliche Vorschriften einzuhalten. Will die Firma ein Produkt über den Atlantik verkaufen, muss sie es erst von einem privaten US-Zertifizierungsinstitut prüfen lassen. Trotz CE-Zeichen. „In den USA gibt es verschiedene Zertifizierungen, die nicht überall anerkannt werden. Das kann mich gut 10.000 Euro zusätzlich kosten“, klagt Körber.
Es gibt in den USA nicht den einen TÜV, sondern 17 miteinander konkurrierende Zertifizierer. Hinzu kommt, dass viele US-Bundesstaaten eigene Vorschriften haben. In Arizona zum Beispiel können andere Regeln gelten als in Florida. Unter diesem Durcheinander leiden auch amerikanische Firmen.
Hier sollte TTIP ansetzen: Weil Autoblinker auch heute schon in beiden Weltregionen verkehrstauglich sind, US-Thermometer sicher und EU-Maschinen feuerfest, wurde den Unternehmen hierzulande versprochen, dass man diese Standards gegenseitig anerkennen kann. Und dass EU-Firmen ihre Produkte künftig viel unbürokratischer in die USA exportieren können. Das war bisher eines der wichtigsten Argumente für TTIP. Wahrscheinlich wird es aber nicht eingehalten.
Zeitdruck auf die Verhandler
Seit Montag läuft die Hannover Messe. Von dort haben die Regierungschefs das Signal gesetzt: TTIP soll bis Ende des Jahres im Grundsatz fertig sein. Neben US-Präsident Obama und Bundeskanzlerin Angela Merkel werden auch die führenden TTIP-Verhandler und EU-Kommissionspräsident Juncker in Hannover sein. Soll TTIP noch vor dem Ende der Amtszeit Obama ausverhandelt werden, bliebe für Details nicht mehr viel Zeit.
Nach der letzten Verhandlungsrunde im Februar verkündeten die Verhandler Fortschritte beim Thema Auto: „Wir haben im Bereich Auto bisher eine Einigung bei Gurtverankerungen und Scheinwerfern erreicht.“ Nach fast drei Jahren Verhandlungen nur Gurte und Scheinwerfer? Dabei war es gerade die Autoindustrie, die zu Beginn der Verhandlungen optimistisch war. Es müsse doch möglich sein, Blinker oder Rückspiegel gegenseitig anzuerkennen.
Konkret wenig erreicht
Doch jetzt stellt sich heraus: genau das funktioniert nicht. Im öffentlich zugänglichen Protokoll zur letzten Verhandlungsrunde in Brüssel steht: Beim Kapitel Autos haben „die Verhandlungspartner über bestimmte Themen im Einzelnen diskutiert und waren sich einig, dass es noch Bedarf an detaillierteren Diskussionen zu den technischen Details gibt.“ Übersetzt heißt das: Man hat fast nichts erreicht.
Auch in anderen Bereichen gehen die Fortschritte gegen Null. Bei einem internen Treffen hatte die EU-Kommission vorsichtig angedeutet, dass man die Verhandlungen zum Maschinenbau auch einstellen könnte wegen fehlender Fortschritte. Im Protokoll einer internen Besprechung der EU-Kommission mit Vertretern der Mitgliedstaaten am 12. Februar diesen Jahres, das CORRECTIV vorliegt, heißt es dazu: Auf eine kürzlich erfolgte Kommissions-Ankündigung „die Verhandlungen zum TTIP-Annex ,Anlagen- und Maschinenbau (engineering)’, wegen fehlender Substanz einzustellen, reagierten einige Mitgliedstaaten nun mit der Forderung, hier weiter zu verhandeln.“ Aus EU-Kreisen ist zu hören, dass die USA bei dem Thema, das vor allem für deutsche oder italienische Firmen lukrativ ist, bisher wenig „Appetit“ gezeigt hätten.
Zustimmung der Wirtschaft sinkt
Bisher standen die großen Wirtschaftsverbände hinter TTIP. Aber die Front bröckelt. Beim Bundesverband der mittelständischen Wirtschaft (BVMW) fragt man sich inzwischen, worin die Vorteile dieses Abkommens überhaupt noch bestehen sollen. Laut einer Umfrage des BVMW bei seinen Unternehmen im März 2016 erwarten 62 Prozent der Mittelständler „eher negative“ oder „sehr negative“ Auswirkungen durch das geplante Abkommen. Ihrer Meinung nach werde den Unternehmern Sand in die Augen gestreut.
Der Bund der Deutschen Industrie (BDI) ließ vor einem Jahr noch eigens Videos mit Geschäftsführern mittelständischer Unternehmen produzieren, die dem Publikum erklärten, welche Kosten sie sparen, wenn sie keine Extrazertifikate für die USA mehr brauchen. Selbst Kritiker halten diesen Teil von TTIP für sinnvoll.
US-Verhandlern fehlt das Mandat
Doch nun wird immer klarer, warum gerade dieser Teil die Erwartungen wohl nicht erfüllen wird. Vor allem nicht, wenn das Abkommen bald fertig werden soll.
Weder die Verhandler noch die Verbände räumen öffentlich ein, dass die US-Seite über viele Zulassungsprüfungen nicht verhandeln kann. Die US-Delegierten haben gar kein Mandat dafür, weil die einzelnen Bundesstaaten oft darüber entscheiden, wie die Standards aussehen. Die sitzen aber nicht mit am Tisch. Und weil die Zulassung von privaten Zertifizierern oder im Extremfall vom örtlichen Sheriff abhängt. Die US-Regierung kann im besten Fall unverbindliche Leitlinien mit der EU vereinbaren.
Laut einem CORRECTIV vorliegenden Bericht informierte ein EU-Beamter bereits im Jahr 2014 die Mitgliedstaaten, dass die US-Seite es „mit Verweis auf die mangelnde rechtliche Verpflichtungsmöglichkeit“ abgelehnt habe, die privat organisierten US-Zertifizierungsinstitute zu einer Vereinheitlichung zu zwingen.
Normen und Standards hätten in bisherigen Freihandelsabkommen keine große Rolle gespielt, sagt Sybille Gabler vom Deutschen Institut für Normung (DIN). Schließlich bewegten sich die meisten Länder innerhalb des internationalen Normungssystems. Die USA jedoch „nutzen internationale Standards weniger“. Deswegen sei dieses Thema bei TTIP eigentlich „besonders wichtig“, sagt Gabler.
Sicherheitsrisiko Auto
Aber auch dort, wo die Amerikaner verhandeln können, wie bei Autostandards, geht es nicht voran. Der Verband der Deutschen Autoindustrie (VDA) warb in einer Werbebroschüre für TTIP, dass die verschiedenen Handelsbarrieren einem Zoll von 26 Prozent entsprächen. Sie versprechen sich Gewinne, wenn ein in Deutschland gebautes Auto ohne Änderungen auch in den USA verkauft werden könnte. Das wird durch TTIP aber nicht erreicht.
2014 hatte die US-Autoindustrie eine Studie bei der University of Michigan in Auftrag gegeben, um zu klären, ob aus Sicherheitsgründen Auto-Standards gegenseitig anerkannt werden können. Die Ergebnisse waren niederschmetternd. Die US-Forscher stellten fest, dass eine Anerkennung der jeweils anderen Standards zu einem erhöhten Risiko auf den Straßen führen würde. Die Leiterin der Studie, Carol Flannagan, sagt: „In vielen Bereichen sind die Autos nicht gleichwertig, weil es Unterschiede im jeweiligen Verkehr gibt. Eine direkte Anerkennung ist nicht zu empfehlen.“
Selbst aus der Industrie kommen vereinzelt Warnungen. Der Verband der europäischen Autozulieferindustrie CLEPA ist zwar für TTIP, hat aber schon früh etwa vor der Anerkennung von US-Bremssystemen für Schwertransporter gewarnt. In einer Email am 11. Februar 2014 schrieb der Verband an die EU-Kommission von einem „Abbau von Sicherheitsstandards (…) wenn Fahrzeuge entsprechend FMVSS 121 (US-Standard) in der Europäischen Union zugelassen wären.“ Wenn Transportunternehmen in ihrer Fahrzeugflotte sowohl US- als auch EU-Lastwagen hätten, die unterschiedliche Bremsen haben, befürchtet der Verband zudem konkrete Risiken: „Fahrer wären mit verschiedenen Optionen konfrontiert, die in Notsituationen zu Problemen führen könnten.“ CLEPA ist der Auffassung, dass bei einer Anerkennung „der praktische Nutzen gleich null sei.“
Die Verhandler brüten derweil immer noch über Scheinwerfer. Crash Tests, Bremsen oder Airbags wurden noch gar nicht im Detail verhandelt.
Nun, nach fast drei Jahren Verhandlung, zeigt sich: Prüfmethoden, Zulassungsverfahren, Sicherheitsvorkehrungen sind doch sehr verschieden. Einige Behörden bewegen sich kaum. Kleinere Erfolge gibt es bislang für die Pharma- und die Chemiebranche. Dort will man künftig einige Prüfverfahren testweise vereinfachen. Für echte Fortschritte brauche man zehn Jahre, sagte ein Verhandler der EU gegenüber CORRECTIV während der letzten Verhandlungsrunde im Februar. Man ist sich lediglich einig, sich in Zukunft leichter zu einigen.
Wussten das die Verhandler nicht vorher? Unternehmer Körber glaubt, dass sie naiv waren und die „Schwierigkeiten bei den Standards nicht richtig eingeschätzt haben.“ Zumindest sollten die TTIP-Verhandlungen einen Schub geben, um die schleppende Kooperation mit den USA zu verbessern.
USA müssen sich bewegen
Denn für die Industrie gibt es ein spezifisches Dilemma mit den USA. Der Grund für die unterschiedlichen Systeme ist, dass die Amerikaner die international anerkannten Normen nicht übernehmen. Es gibt internationale Standards beim Autobau oder die ISO-Normen für Geräte. Weltweit setzen die meisten Staaten in dem ISO-Gremium gemeinsame Standards fest. Die USA sind dort offiziell dabei, setzen die Regeln zu Hause aber nicht um.
„Harmonisierung kann und muss (…) durch die internationalen ISO- und IEC-Standardisierungsorganisationen erfolgen“, fordert der Zentralverband Elektrotechnik- und Elektronikindustrie (ZVEI) und auch Konzerne wie Siemens stehen hinter dieser Forderung. Die europäischen Verhandler wollen die USA daher überzeugen, in Zukunft auf der internationalen Ebene mitzumachen. Dazu müssten die Amerikaner aber zunächst ihre internen Strukturen ändern.
Industrie setzt auf Expertengremien
Verliert selbst die Industrie nun die Lust an TTIP? Nein, denn im Rahmen von TTIP sollen „Expertengremien“ eingeführt werden, die die Konzerne gut finden. Beamte auf beiden Seiten sollen gemeinsam künftige Standards vorbereiten. Diese werden dann den politischen Entscheidungsträgern vorgelegt. Das war ein wichtiges Anliegen von Anfang an, könnte jetzt aber zum wichtigsten Teil für die US- und die EU-Wirtschaft werden.
Kritiker sehen bei dieser Form der Kooperation eine Gefahr für die Demokratie. „Wenn es etwa um Sicherheits- oder Gesundheitsschutz geht, könnten künftig Vorentscheidungen fallen, die die Parlamente nur sehr schwer verhindern könnten. Vor allem weil es darum geht, dass bestimmte Gesetze gar nicht erst eingeführt werden,“ sagt etwa Klaus Müller vom Bundesverband der Verbraucherzentralen. Hinzu kommt: Wenn sich die Industrielobbies beider Seiten zusammentun, wächst deren Gewicht auf politische Entscheidungsträger.
Vorteile bleiben aus
TTIP könnte nun ein Abkommen werden, das vor allem auf die Zukunft angelegt ist. „TTIP light“ lehnen die Verhandler als Begriff ab, weil es nahe legt, dass nicht genug für beide Seiten herausspringt. Aber es wird ein Abkommen, dass kaum direkte Vorteile bringt, sollte es beschlossen werden.