Die Polizei in Rio de Janeiro hat seit Monatsbeginn bereits elf Personen erschossen. Die erneute Zunahme der Polizeigewalt versetzt die Bewohnerinnen und Bewohner der Favelas in Angst und Schrecken, stellt Amnesty International 100 Tage vor Beginn der Olympischen Spiele fest.
Mindestens 307 Menschen wurden 2015 alleine in der Stadt Rio de Janeiro von der Polizei getötet. In anderen Worten: Einer von fünf Toten ging auf das Konto der Polizei. Statt die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen, gehen die Behörden der Stadt mit harter Hand gegen friedliche Demonstrierende vor.
Den Bewohnerinnen und Bewohnern von Rio wurde als Vermächtnis der Olympischen Spiele eine sichere Stadt versprochen. Stattdessen erleben sie einen Anstieg der Polizeigewalt – bis hin zu Tötungen.
Atila Roque, Direktor von Amnesty International Brasilien
Die Polizei reagiert auf Demonstrationen und Proteste vermehrt mit Gewalt: In den vergangenen Jahren wurden durch den Einsatz von Gummigeschossen, Handgranaten und Feuerwaffen mehrere Menschen ernsthaft verletzt.
Weder Ermittlungen noch klare Vorschriften für die Polizei
Zu kaum einem der tödlichen Polizeieinsätze wurden bisher Ermittlungen eingeleitet und die Sicherheitskräfte erhalten weder ein angemessenes Training noch klare Vorschriften für den Einsatz von sogenannten «nicht-tödlichen Waffen». Demonstrierende werden mittlerweile wie Staatsfeinde behandelt.
Die Behörden der Stadt und das Organisationskomitee von Rio 2016 haben noch hundert Tage Zeit, um sicherzustellen, dass durch Einsätze zur Wahrung der öffentlichen Sicherheit an den Olympischen Spielen keine Menschenrechte verletzt werden. Wir erwarten von den Polizeikräften, dass sie bei ihren Einsätzen mit Umsicht vorgehen, statt ihre bisherigen Strategie ‹erst schiessen, später fragen› fortzuführen.
Junge, schwarze Männer am stärksten betroffen
Im August 2015 veröffentlichte Amnesty International den Bericht «You Killed My Son: Homicides Committed by Military Police in the City of Rio de Janeiro». Dieser belegt, dass die Gewaltbereitschaft der Polizei in der Favela Acari nach der Weltmeisterschaft 2014 gestiegen ist. Die grosse Mehrheit der Opfer exzessiver Polizeigewalt sind junge, schwarze Männer, die in den Favelas oder anderen marginalisierten Gegenden wohnen.
Es ist beunruhigend, zu sehen, wie die Polizei in Rio und anderen brasilianischen Städten jeden Tag tötet und die Behörden kaum was dagegen unternehmen. Den Preis für das Versagen der Behörden bezahlen mehrheitlich die Bewohnerinnen und Bewohner der Favelas
Atila Roque, Direktor von Amnesty International Brasilien
Anti-Terror-Gesetz zur Wahrung der öffentlichen Sicherheit
Weitere Besorgnis bereitet die gewaltsame Unterdrückung von Protesten im Vorfeld der Olympischen Spiele. Zwei Jahre nach der Fussball-Weltmeisterschaft sind noch immer keine wirksamen Massnahmen zur Verhinderung von Polizeigewalt implementiert worden. Und das, obwohl Amnesty International damals mehrere Fälle von exzessiver und unnötiger Gewaltanwendung durch die Polizei bei Protestkundgebungen dokumentiert hatte. Bezeichnenderweise ist das einzige Gesetz, das die Regierung zur Wahrung der öffentlichen Sicherheit mit Blick auf die Olympischen Spiele erlassen hat, ein Anti-Terror-Gesetz, das häufig als Vorwand dient, um Protestkundgebungen zu verbieten oder Protestierende zu kriminalisieren.