Die Ärzteorganisation IPPNW fordert die Bundesregierung anlässlich der Atomkatastrophen von Tschernobyl und Fukushima auf, sich für eine zügige Abschaltung und Stillegung der Atomreaktoren in Europa einzusetzen. Vor 30 Jahren wurden der Menschheit die Gefahren der Atomenergie auf schmerzliche Weise bewusst, als in den frühen Morgenstunden des 26. April 1986 Reaktor 4 des sowjetischen Atomkraftwerks Tschernobyl explodierte. Radioaktive Wolken verteilten die gefährliche Radioaktivität in den folgenden Wochen über ganz Europa – auch Deutschland war betroffen, vor allem Bayern und Baden-Württemberg.
Unmittelbar am havarierten Kraftwerk arbeiteten in den Wochen und Monaten nach dem Super-GAU mehr als 800.000 AufräumarbeiterInnen. Sie erhielten die größte Strahlendosis und erlitten die schwerwiegendsten gesundheitlichen Schäden. Inzwischen sind schätzungsweise 112.00-125.000 AufräumarbeiterInnen gestorben, die Haupttodesursache waren Hirn- und Herzinfarkte.
Mehr als 350.000 Menschen mussten aus der 30 km-Zone und weiteren stark kontaminierten Regionen evakuiert werden. Ungefähr 8,3 Millionen BürgerInnen der Ukraine, Weißrusslands und Russlands wurden großen Mengen radioaktiven Niederschlags ausgesetzt. Schätzungsweise 100 Millionen Menschen in der UdSSR und 500 im Rest Europas wurden mit geringeren Strahlendosen belastet. Rund 36% des radioaktiven Cäsiums gingen damals über Weißrussland, Russland und der Ukraine nieder, etwa 53% über dem Rest Europas. 11% verteilten sich über den restlichen Globus. Auch in Deutschland nahmen Millionen von Menschen radioaktive Isotope wie Jod-131 oder Cäsium-137 mit der Atemluft, kontaminierter Nahrung, Milch und Trinkwasser in den Körper auf. Bis heute werden gesundheitsschädigende Mengen radioaktiven Cäsiums in bayerischem Wild und Waldfrüchten gefunden.
Die wohl bekannteste Folge des Super-GAU ist der massive Anstieg von Schilddrüsenkrebsfällen – vor allem in Weißrussland, der Ukraine und Russland, aber in geringerem Umfang auch in allen anderen radioaktiv kontaminierten Regionen Europas. Die starke Fokussierung auf Schilddrüsenkrebs hat jedoch auch dazu geführt, dass weitaus gefährlichere Tschernobyl-Folgen aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängt wurden: So kam es bei den LiquidatorInnen und den BewohnerInnen der stark kontaminierten Gebiete zu signifikant erhöhten Raten von Leukämie und Lymphomen sowie Malignomen der Prostata, der Haut, der Nieren, des Darms und der weiblichen Brust.
Die Anzahl der strahlenbedingten nicht-malignen Erkrankungen wie Herzinfarkte, Schlaganfälle, Katarakte oder Hormondysregulationen wird erst langsam im vollem Umfang begriffen und bewegt sich vermutlich in ähnlichen Größenordnungen wie die Zahl der Krebserkrankungen. Fehlbildungen, chromosomale Aberrationen wie Trisomie 21 und die Erhöhung der perinatalen Sterblichkeit in Abhängigkeit zur Kontamination mit Cäsium-137 wurden bereits wenige Jahre nach Beginn der Atomkatastrophe in Weißrussland, der Ukraine und einigen mittel- und osteuropäischen Ländern registriert.
Die Atomwirtschaft versucht bis heute die Katastrophe von Tschernobyl kleinzureden und beschränkt sich in ihren Untersuchungen lediglich auf die betroffene Bevölkerung in den am schwersten kontaminierten Regionen. Die Internationale Atomenergieorganisation IAEO, deren Satzungsziel die Förderung der zivilen Atomenergie ist, geht von einer Kollektivdosis von 55.000 Personen-Sievert aus – immerhin noch genug, um rund 5.000-19.000 zusätzliche Krebsfälle in dieser Bevölkerung zu verursachen. Sowjetische Behörden gaben allerdings für ganz Europa eine Kollektivdosis von 2,4 Millionen Personen-Sievert an – mit der Folge von rund 216.000–842.000 zusätzlichen Krebserkrankungen, davon etwa die Hälfte mit tödlichem Ausgang. Zwischen diesen beiden Schätzungen wird sich die tatsächliche Dosis bewegen.
Weiterführende Informationen:
IPPNW-Report „30 Jahre Leben mit Tschernobyl – 5 Jahre Leben mit Fukushima“