Erklärung der NaturwissenschaftlerInnen-Initiative, 11. März 2016
Am 11. März 2011 zerstörte ein Erdbeben gefolgt von einem Tsunami große Teile der japanischen Küste und kostete mehr als 18.000 Menschen das Leben. Aufgrund der durch Beben und Flut unterbrochenen Stromversorgung explodierten im Nuklearkomplex von Fukushima mehrere Reaktoren, sodass ein Teil des radioaktiven Materials freigesetzt wurde und sich über die Atmosphäre und Ozeanströmungen weltweit verbreitete.
Die Wirkung der Reaktorkatastrophe wurde noch an den weit entfernten Küsten der USA gemessen. Die japanische Regierung schaltete zwar zeitweise alle Atomkraftwerke ab, verharmloste aber die Katastrophe durch wiederholte Fehlinformationen und vernachlässigte den Schutz der Bevölkerung vor den Folgen radioaktiver Belastungen. Bis heute ist z.B. nicht bekannt, wieviel radioaktiv kontaminiertes Wasser in den Pazifik entlassen wurde.
Fukushima erinnerte erneut und nachdrücklich an die Risiken der Kernenergie, 25 Jahre nach der verheerenden Katastrophe von Tschernobyl. Am 26. April 1986 explodierte Block 4 des Atomkraftwerks in der nördlichen Ukraine. Durch eine Fehleinschätzung des Kraftwerkspersonals wurde nach einem fehlgeschlagenen Belastbarkeitstest eine unkontrollierte Kettenreaktion in Gang gesetzt. Große Mengen hoch-radioaktiven Materials wurden in die Atmosphäre geschleudert und von Windströmungen großflächig über Europa verteilt. Millionen von Menschen wurden einer erhöhten Strahlenbelastung ausgesetzt, darunter mehrere hunderttausend „Liquidatoren“, von denen viele ihre Leben verloren oder schwer erkrankten; hunderttausende Menschen wurden für immer evakuiert.
Die Katastrophen von Tschernobyl und Fukushima sind spektakuläre Beispiele für eine Risikokaskade, in der Natur, Technik und Gesellschaft in eng verkoppelter Weise zusammenwirkten und eine Kette von Ereignissen mit globaler Wirkung in Gang setzten. Die Entfesselung der gewaltigen Naturkräfte durch die Spaltung des Atomkerns durchbrach alle Barrieren und entließ ihre destruktive Energie ungeschützt in Natur und Gesellschaft, wo sie selbst wieder Kettenreaktionen auslöste:
- Aufgrund der immensen Kosten und Folgeschäden torpedierte Tschernobyl die Bestrebungen Gorbatschows, die Sowjetunion zu reformieren und trug damit zu dem Ende des sozialistischen Staatensystems bei, das 1989 wie ein Kartenhaus in sich zusammen brach.
- Nicht minder spektakulär waren die Folgen von Fukushima. Direkt oder indirekt davon betroffen waren das japanische Stromnetz, die Nuklearindustrie, Aktienmärkte, der Ölpreis und die Weltwirtschaft. Autohersteller und Elektronikfirmen drosselten weltweit die Produktion, weil wichtige Teile aus Japan fehlten. Die Schockwellen lösten in Deutschland die Energiewende aus.
Beide Nuklearkatastrophen wurden zum Symbol der globalen Risikogesellschaft, in der komplexe Ereignisketten weltweite Auswirkungen haben können. Und beide Desaster haben in vielen Ländern die Anti-Atom-Bewegung gestärkt, die seit Jahrzehnten die vielfältigen Risiken der Kernenergie über die gesamte nukleare Produktionskette kritisiert und unermüdlich für den Ausstieg aus der Risikotechnologie eintritt. Neben den enormen Risiken von Reaktorkatastrophen ist die Endlagerungsproblematik weiter ungelöst und eine Bürde für zukünftige Generationen über zehntausende von Jahren. Niemand kann sagen, ob die sozialen und politischen Strukturen stabil genug sind, um diese Last ausreichend lange zu tragen. In keinem Land wurde die sichere Lagerung von tausenden von Tonnen nuklearen Abfalls und radioaktiv verseuchten Materials gelöst; es gibt bislang nur eine zeitweise Zwischenlagerung. In Deutschland bleibt dies eine brennende und umstrittene Frage.
Das mit der Kernenergie verbundene Konflikt-, Gewalt- und Repressionspotential ist überall dort gegenwärtig, wo die Gefahren gegen alle Widerstände durchgesetzt werden sollen, so auch bei den Castor-Transporten oder der internationalen Verschiffung von Plutonium. Kernenergie ist riskant und kostspielig, verbraucht und belastet Naturressourcen, und ist keine Lösung des Klimaproblems. Im Gegenteil könnten sich die Risiken der Kernenergie und des Klimawandels gegenseitig verstärken.
Besonders schwer wirkt, dass mit dem nuklearen Brennstoffkreislauf die Möglichkeit zum Bau der Atombombe verbunden ist. Eine Trennlinie zwischen der militärischen und der vermeintlich friedlichen Spaltung des Atomkerns ist nicht möglich. Wie durchlässig diese Trennlinie ist, hat sich immer wieder gezeigt, in den Nuklearprogrammen von Israel, Indien und Pakistan wie auch in Irak, Iran und Nordkorea. Solange die Industriestaaten, allen voran die Kernwaffenmächte, den Griff auf die Kerntechnik praktizieren, lebt der Mythos Kernenergie auch in der “Dritten Welt“ weiter. Einige Länder wie Frankreich, Japan und Russland sowie Indien und China setzen weiter auf den Ausbau der Kernenergie.
In Deutschland setzte Fukushima den Atomausstieg bis 2022 und die Energiewende in Gang, die weltweit große Beachtung finden. Zunehmend werden jedoch Widerstände gegen eine halbherzig betriebene Abkehr vom fossil-nuklearen Energiepfad sichtbar. Um ein Scheitern zu verhindern, müssen in Deutschland und weltweit die nukleare Brennstoffspirale auf allen Stufen durchbrochen, alle Atomkraftwerke abgeschaltet und alle Atomwaffen abgeschafft werden. Es geht darum, eine nachhaltige, klimaverträgliche und friedliche alternative Energieversorgung mit erneuerbaren Energien, Energieeinsparung, intelligenten Stromnetzen, neuen Produktionsverfahren und Konsummustern auszubauen.
- Hierzu brauchen wir eine politische Vernetzung kritischer Bewegungen und die Schaffung alternativer Strukturen im Rahmen einer großen Transformation für eine nachhaltige und kohlenstoffarme Gesellschaft.
- Die Abschaffung aller Atomwaffen ist unabdingbar, um das Damoklesschwert der Vernichtung des Planeten zu bannen.
- Ziel aller Aktivitäten gegen Atomenergie und Atomwaffen bleibt die doppelte Null: weltweit alle Atomkraftwerke abzuschalten und mit einer Nuklearwaffenkonvention die Welt von Atomwaffen zu befreien.