Vor dem Hintergrund langanhaltender Krisen wie dem Syrien-Konflikt fordert Amnesty International von der internationalen Gemeinschaft eine andere Außen- und Sicherheitspolitik. „Nur eine konsequent auf Menschenrechten basierte Politik hilft, langfristig Konflikten vorzubeugen und Fluchtursachen zu reduzieren“, sagt Selmin Çalışkan, Generalsekretärin von Amnesty International in Deutschland, bei der Vorstellung des Amnesty International Reports 2015/16 in Berlin. Darin beschreibt die Organisation die Menschenrechtssituation in 160 Ländern.
2015 hat die internationale Gemeinschaft dabei versagt, Lösungen für ihre größten Krisen zu finden. Dazu zählen der Konflikt in Syrien und das Leid von weltweit mehr als 60 Millionen Flüchtenden. „Der Grund für dieses Versagen liegt in einer Kontinuität des Wegschauens und einer egoistischen Fokussierung auf nationale Interessen, die sich bei vielen Regierungen finden“, so Çalışkan. Das beweist auch der Syrien-Konflikt: „Vor den Augen der Weltöffentlichkeit hat sich in Syrien ein bewaffneter Konflikt entwickelt, der inzwischen geschätzt 250.000 Menschen das Leben gekostet hat und bei dem es zu massenhaften Menschenrechtsverletzungen kommt.“
Auch in Europa ließ sich 2015 beobachten, wie Regierungen Menschenrechte ignorieren: In Polen bedrohen neue Gesetze der Partei für Recht und Gerechtigkeit die Meinungsfreiheit und auch die Gewaltenteilung. Ungarn nimmt mit seiner Politik der Zäune faktisch keine Flüchtlinge mehr auf.
„Die Europäische Union braucht endlich eine Strategie für eine Menschenrechtspolitik im Inneren“, sagt Çalışkan. „Es ist wichtig, dass die EU die Menschenrechtssituation in ihren Mitgliedsstaaten genau beobachtet und bei Verstößen schnell aktiv wird. Sie muss die ihr zur Verfügung stehenden Instrumente wie den EU-Rechtsstaatsmechanismus oder das Vertragsverletzungsverfahren konsequenter anwenden“, so Çalışkan.
Im Fall Polens hat Brüssel mit dem EU-Rechtsstaatsmechanismus reagiert, gegen Ungarn läuft ein Vertragsverletzungsverfahren. „Amnesty begrüßt beide Schritte ausdrücklich“, so Çalışkan.
Deutschland muss sich wieder stärker auf die Menschenrechte als Grundlage seiner Politik besinnen. Geschätzt etwa eine Million Asylsuchende sind 2015 nach Angaben der Bundesregierung nach Deutschland gekommen. „Die Bereitschaft, diese Menschen aufzunehmen, war ein großer Beitrag, um Notleidenden zu helfen“, so Çalışkan.
„Doch diese flüchtlingsfreundliche Haltung der Bundesregierung gibt es nicht mehr. Das hat sich an den Asylpaketen I und II gezeigt und zeigt sich auch am aktuellen Umgang mit der Türkei“, sagt Çalışkan. Auf die setzt Merkel als neuen strategischen Partner, um die Zahl der Flüchtlinge zu verringern, die es nach Europa schaffen.
„Die Regierung Erdogan verletzt regelmäßig die Menschenrechte. Das muss die Bundesregierung ansprechen, wenn sie mit Ankara verhandelt“, so Çalışkan.
Die Bundesregierung muss die Lage der Menschenrechte auch in Marokko, Tunesien und Algerien im Blick behalten, also in den Ländern, in die sie Geflüchtete schneller abschieben will, indem sie sie zu sogenannten „sicheren Herkunftsländern“ erklärt.
„In Marokko, Tunesien und Algerien gibt es schwerwiegende menschenrechtliche Probleme, wie Folter durch Polizisten, Einschränkungen der Meinungs- und Versammlungsfreiheit und Schikane von Menschenrechtsverteidigern“, so Çalışkan.
„Wenn die Bundesregierung diese drei Länder tatsächlich zu sicheren Herkunftsstaaten erklärt, verstößt sie nicht nur gegen das Grundrecht jedes Menschen, Asyl zu suchen, sondern auch gegen die eigenen verfassungsrechtlichen Kriterien zur Bestimmung sicherer Herkunfsstaaten. Amnesty fordert die Regierung Merkel auf, dieses Gesetzesvorhaben fallen zu lassen.“
Der Amnesty International Report 2015/16 gibt auf mehr als 400 Seiten Auskunft über die aktuelle Lage der Menschenrechte in 160 Ländern und Territorien. Die deutsche Ausgabe erscheint voraussichtlich am 25. Mai 2016 im S. Fischer Verlag.