Eine Antwort der deutschen Fachschaften Friedens- und Konfliktforschung auf das Vorhaben des Militäreinsatzes der Bundesregierung.
Die deutschen Fachschaften der Friedens- und Konfliktforschung verurteilen den Vorstoß der Bundesregierung zu einem vorschnellen und unüberlegten Militäreinsatz im Syrienkonflikt. Wissenschaftler_innen der Friedens- und Konfliktforschung verweisen regelmäßig auf den komplexen Konfliktkontext Syriens auf lokaler und internationaler Ebene, der vielschichtige Lösungsansätze benötigt. Dennoch will die Bundesregierung auf eine vereinfachende und alleinig militärische Lösung zurückgreifen, die dem Konflikt nicht annähernd gerecht wird und verheerende Folgen nach sich ziehen würde. Damit zieht Deutschland aus falsch verstandener Solidarität in einen Krieg, in dem verschiedene Akteur_innen geostrategische Machtinteressen auf dem Rücken der syrischen Bevölkerung auskämpfen.
Die Unterzeichner_innen dieses Aufrufs fordern die Bundesregierung und das Parlament auf, keine Beschlüsse ohne eine umfassende öffentliche Debatte zu fällen und auf ein überstürztes militärisches Eingreifen in Syrien zu verzichten.
Der Komplexität des Konflikts gerecht werden
Syrien ist ein Land mit hochkomplexer Problemlage und diffusen Fronten. Zahlreiche Splittergruppen kämpfen seit Jahren im Bürgerkrieg. Sie verfolgen äußerst unterschiedliche Interessen und werden von verschiedenen Großmächten unterstützt, die aus strategischen und geopolitischen Interessen Waffen in Milliardenhöhe in die Region liefern. Machtkämpfe zwischen Saudi-Arabien und dem Iran (1) sind dabei von ebenso großer Bedeutung wie das russische, amerikanische und europäische Streben nach Einfluss in der Region, ganz abgesehen von Zielen der Türkei und kurdischer Gruppierungen.
Konfliktforscher_innen und andere Wissenschaftler_innen, die seit Jahren zu der Region arbeiten, sehen durch die vielfältigen Verstrickungen keinen einheitlichen, und schon gar keinen einfachen Lösungsweg für die Probleme. Bei allen verschiedenen Sichtweisen und fachlichen Diskussionen ist jedoch eines immer klar: Das Land aus vermeintlicher Solidarität gegenüber Frankreich strategielos zu bombardieren, wird keine Probleme lösen – weder den Konflikt in der Region, noch die internationale Bedrohung durch Terroranschläge. Aufklärungsflüge durch deutsche Tornado-Kampfjets sind nicht weniger Teil eines Kampfeinsatzes, nur weil sie keine Bomben abwerfen.
Der selbsternannte „Islamische Staat“ ist erschreckend, gleichzeitig aber nur eine Manifestierung der vorherrschenden Problemlage. An deren Ursachen haben nicht zuletzt auch westliche Staaten ihren Anteil – durch Waffenlieferungen, Unterstützung despotischer Regime und Destabilisierung fragiler Gleichgewichte, beispielsweise im Irak. Zweifellos ist es dringend notwendig, sich politisch und wissenschaftlich ernsthaft mit dem „IS“ auseinanderzusetzen und gegen ihn vorzugehen. Aber es ist fatal, die Selbstinszenierung der Terrororganisation als eine Inkarnation des Schreckens einfach zu übernehmen und als Reaktion auf die Bedrohung in einen Krieg zu ziehen, der die komplexen Machtverstrickungen vollständig ignoriert.
„Der Westen“ gegen „den Islam“: Diese viel zu vereinfachenden Kategorien des „Kampfes der Kulturen“ beschwören gefährliche Fronten herauf, mit denen die politischen Akteure der Strategie des „IS“ direkt in die Hände spielen. Zudem ist nicht nur die völkerrechtliche Grundlage des Einsatzes höchst umstritten, sondern es mangelt – ähnlich wie beim Irak-Krieg – an einem eindeutigen Mandat der Vereinten Nationen.
Nicht nur der „IS“ richtet in Syrien ein Blutbad an, sondern auch das Assad-Regime, das seine Bevölkerung mit Bombenangriffen terrorisiert und für viele Syrer_innen zentraler Fluchtgrund ist.
Seit Beginn der gewaltsamen Unterdrückung friedlicher Proteste in Syrien vor vier Jahren rufen Zivilist_innen die internationale Gemeinschaft um Schutz und Hilfe an. Aber auch nach Giftgaseinsätzen und Fassbomben ist kaum etwas passiert. Erst jetzt, da sich ganz Europa existenziell bedroht sieht, stürzt sich Deutschland Hals über Kopf mit militärischem Engagement in die Region. Nicht abschließend geklärt ist jedoch, welche der heterogenen Akteure Verbündete und welche Gegner sind oder was passieren soll, wenn die Stellungen des „IS“ zerstört sind. (2)
Für eine öffentliche Debatte
Die Bundesregierung sieht sich außerstande, Fragen nach ihrer Strategie zu beantworten. Stattdessen peitschen sie den Militäreinsatz in drei Tagen durch das Parlament, so dass keine Zeit zum Abwägen und Kalkulieren von Risiken oder zum Protestieren bleibt. Damit setzt sie de facto den historisch begründeten und verfassungsmäßig verankerten Parlamentsvorbehalt außer Kraft: der Bundestag hat bei Militäreinsätzen immer das letzte Wort. Die öffentliche Debatte muss Bedingung jeglichen militärischen Handelns sein. Doch dies scheint hier bewusst übergangen zu werden. Dabei kommt der Bundesregierung die diskursive Verknüpfung der Debatten über „Flüchtlingsströme“ und terroristische Sicherheitsbedrohungen zu Gute.
Wie u.a. die Kriege im Irak, in Afghanistan und die militärische Intervention in Libyen gezeigt haben, kann durch panische militärische Kurzschlussreaktionen kein Frieden geschaffen werden. Die deutsche Zivilbevölkerung hat kaum Zeit zu reagieren. Im Gegensatz zu den Kriegsvorbereitungen im Kosovokonflikt, dem Einsatz in Afghanistan und dem 3. Irakkrieg sind die kritischen Stimmen in diesem Konflikt sehr schwach.
Geht es bei dem Einsatz tatsächlich um eine Verringerung der Terrorgefahr und das Wohl der syrischen Zivilbevölkerung? Wieso wird dann nicht versucht, dem „Islamischen Staat“ die finanzielle Grundlage zu entziehen? So könnte z.B. der Ölschmuggel über die türkische Grenze bekämpft oder Waffenlieferungen an Staaten, die den IS unterstützen, unterbunden werden. Weshalb stehen nicht Maßnahmen zum Schutz der syrischen Bevölkerung an oberster Stelle?
In den vergangenen Wochen wurde immer wieder diskutiert, dass der Terror, der jetzt Paris getroffen hat, seinen Ursprung auch hier hat. Menschen, die sich im westeuropäischen Kontext radikalisieren und dem IS anschließen, zeigen auf, dass der Fokus auf militärische Interventionen im Ausland und die Logik des Krieges entscheidende Komponenten außer Acht lässt. Soziale Ausgrenzung und fehlende Lebenschancen, die bestimmte Menschen strukturell an den Rand der Gesellschaft drängen, müssen direkt hier von Seiten der europäischen Gesellschaften und ihren Regierungen als Ursache für terroristische Anschläge in Betracht gezogen und bearbeitet werden. Konfliktprävention in Deutschland und Europa ist demnach ein Faktor, der bei der aktuellen Fokussierung der Bundesregierung in Vergessenheit gerät.
Kein überstürztes militärisches Eingreifen!
Solidarität mit den Opfern der Anschläge in Paris kann nicht durch Bombardements erreicht werden. Solidarität mit Frankreich darf auch nicht bedeuten, die Lage der Zivilbevölkerung in Syrien zu verschlimmern, indem den Bündnispartnern unüberlegt in den Krieg gefolgt wird. Unter Bombardierungen leiden in erster Linie immer Zivilist_innen.
Die Fachschaften der Studiengänge für Friedens- und Konfliktforschung in Deutschland sind empört und bestürzt über die unvorbereitete und kontraproduktive militärische Reaktion Deutschlands.
Wir fordern die Bundesregierung und alle Abgeordneten des Parlaments auf, keine Beschlüsse ohne eine umfassende öffentliche Debatte zu fällen und auf ein überstürztes militärisches Eingreifen in Syrien zu verzichten!
(1) und (2):
In der Originalfassung dieses Statements, so wie es alle bisherigen ZeichnerInnen unterstützt haben, war eine Einteilung der Regime in „schiitisch“ und „sunnitisch“ angegeben. Die Verfassenden wurden von IslamwissenschaftlerInnen darauf hingewiesen,dass diese enorm arbiträre Unterteilung nicht korrekt ist und eher den kriegsführenden Parteien in ihrer Logik begegnet, anstatt diese zu hinterfragen. Daher haben wir diese Elemente aus dem Statement gestrichen.