von Rafael Ziegler für Big Jump Challenge
Im Interview sprachen wir mit S.E. Jorge Jurado, dem ersten Wasserminister Ecuadors von 2008-2010 und seither Botschafter Ecuadors in Deutschland. Jurado gehört zu den führenden lateinamerikanischen Denkern über Wasser, er hat Bücher und Artikel verfasst, und weltweit Reden über Wasser gehalten, inklusive bei der UNO. Im Interview erklärt er den ecuadorianischen Menschenrechts-Ansatz, seine praktischen Implikationen – und spricht über seine Zeit als Student in Berlin.BJC: Ecuador hat 2008 das Menschenrecht auf Wasser in seiner Verfassung verankert. Wie definiert Ecuador das Menschenrecht auf Wasser?
Jorge Jurado: In Ecuador ist das Wasser gemäß der Verfassung, die im Jahr 2008 per Referendum angenommen wurde, ein unveräußerliches Grundrecht. Die Wasserwirtschaft ist ein öffentlicher Sektor von nationaler strategischer Bedeutung, der unverjährbar unter Zuständigkeit des Staates steht. Das Menschenrecht auf Wasser ist unverjährbar, unpfändbar und unerlässlich für das Leben (vgl. Artikel 12,Verfassung von Ecuador).
Das Menschenrecht auf Wasser steht in einem größeren Kontext. So sieht das Gesetz zu Wasservorkommen innovative Möglichkeiten der Partizipation in Wassereinzugsgebieten vor: interkulturelle & plurinationale Räte sowie Gemeinderäte für Wassereinzugsgebiete. Was genau machen diese Räte?
Das Gesetz über Wasserressourcen und Wassernutzung (LEY ORGÁNICA DE RECURSOS HÍDRICOS, USOS Y APROVECHAMIENTO DEL AGUA) verleiht den Basis-Gemeinschaften sowie dem Staat die Möglichkeit, die Wassereinzugsgebiete zu bewirtschaften. Heute sind es nicht mehr politische Grenzen, sondern die natürlichen Grenzen des Wassers selbst, welche eine effizientere Verwaltung der Wassereinzugsgebiete bestimmen.
Hierbei kommt dem Interkulturellen und Plurinationalen Rat die Rolle zu, mit Ratschlägen und lokal relevanten Hinweisen diese Bewirtschaftung zu begleiten und zu ergänzen; dabei artikuliert dieser Rat auch die Interessen der indigenen Gemeinschaften und bringt sein Wissen um die Wasserressourcen vor Ort ein. So werden Teilhabe und Inklusion gewährleistet. Die Nutzung der sozialen und wirtschaftlichen Parameter der Basis-Gemeinschaften in Zusammenhang mit der technischen Information zur Wasserwirtschaft ist unerlässlich, um eine kohärente Wasserstrategie zu entwickeln, welche Voraussetzung einer erfolgreichen Wasserbewirtschaftung ist.
Zudem haben die Basis-Gemeinschaften das Recht auf Selbstverwaltung und sind geschützt durch die Verfassung Ecuadors in Bezug auf die indigene Subsistenzwirtschaft sowie ihren nachhaltigen Umgang mit natürlichen Ressourcen wie dem Wasser: „Die Personen, Gemeinschaften, Völker und Volksgruppen haben Recht auf die Nutzung der Umwelt und der natürlichen Reichtümer, welche ihnen das Buen Vivir erlaubt“ (vgl. Art. 74, Verfassung von Ecuador).
Die privatwirtschaftliche Nutzung von Wasser wird sehr kontrovers diskutiert. Warum verbietet Ecuador die Privatisierung von Wasser, und was bedeutet das praktisch für wasserintensive Sektoren wie Landwirtschaft und Industrie?
Wasser ist in Ecuador ein grundlegendes Menschen- und Bürgerrecht. Wasser darf bei uns nicht mehr privatisiert werden, denn Menschenrechte werden nicht privatisiert!
Die Sektoren Landwirtschaft und Industrie haben Nutzungsrechte und können unter bestimmten Rahmenbedingungen ihren Wassernutzungsanspruch ausüben, wobei der Staat die Wassernutzungsrechte aufgrund der tatsächlichen Wasservorkommen festlegt und verteilt.
Hierbei spielt der Schutz der Wassereinzugsgebiete ebenso eine Rolle wie das Bestimmen des Wasservolumens für die ökonomische Nutzung. Dies ist in dem genannten Wassergesetz geregelt, genauso wie das der Privatnutzung pro Wirtschaftseinheit zustehende Wasservolumen. Schutz und Kontrolle zum Vermeiden von Verschmutzung sind weitere Faktoren der öffentlichen Wasserwirtschaft in Ecuador.
Das Menschenrecht auf Wasser ist eine Vision, die auf abstrakter Ebene von vielen Menschen unterstützt wird. Was hat diese Vision bisher praktisch in Ecuador bewirkt?
Die nationale Leitung der Verwaltung der Wasserreserven ist jedoch keine Vision, sondern bereits in Ecuador in die Tat umgesetzt: Die umfassende und integrierte Verwaltung der Wasserreserven stellt heute in Ecuador die Nutzung von Wasser für das Leben sicher. Konkret bedeutet das für die Menschen unter anderem, dass die Millennium-Entwicklungsziele zur verbesserten Trinkwasser- und Sanitärversorgung bereits erreicht wurden (und insgesamt bereits 20 der 21 Millennium-Entwicklungsziele).
Die Verfassung von Ecuador von 2008 beruht auf einer „Kosmovision“. Bitte sagen Sie uns, was das bedeutet?
Die indigene Kosmovision ist eine Weltanschauung, welche die Werte und Bräuche der Urvölker Ecuadors beschreibt. Integraler Bestandteil dieser Kosmovision ist das Sumak Kawsay (in Quichua) oder Buen Vivir.
Wasser ist ein Teil von unserem Naurerbe und ein öffentliches Gut, welches essenziell für das Leben ist und damit auch wesentlich für das würdevolle Leben gemäß dieser holistischen Kosmovision. Im neuen Wassergesetz werden beispielsweise den indigenen Gemeinschaften spirituelle Wassernutzungsrechte eingeräumt!
Buen Vivir – das „gute Leben“ – ist ein zentrales Element der ecuadorianischen Verfassung. Herr Botschafter, was ist für Sie ein „gutes Leben“?
Das würdevolle oder gute Leben (Buen Vivir) ist für mich eine Gesellschaftsform, wo ich sicher bin, dass meine Bedürfnisse gedeckt sind, ohne dass dadurch Bedürfnisse anderer beeinträchtigt sind. Es bedeutet ein Leben in Einklang mit der Natur und in einer Gesellschaft, in der niemand zurückbleibt, wo genug für alle da ist und es niemandem an etwas fehlt.
Dies ist ein alternatives Leitmotiv für unsere Gesellschaft, den Staat und die Wirtschaft. DennWachstum bedeutet nicht zwangsläufig Entwicklung. Entwicklung ist grundsätzlich eine politische Herausforderung.
Der Artikel 13 der ecuadorianischen Verfassung legt eins der bedeutendsten Grundrechte, die Ernährungssouveränität, fest, welche sich aus dem Buen Vivir ableitet: „Die Personen und Basis-Gemeinschaften haben Anspruch auf sicheren und durchgängigen Zugang zugesunden, hinreichenden und nahrhaften Lebensmitteln, vorzugsweise auf lokaler Ebene produziert und in Einklang mit ihren unterschiedlichen kulturellen Identitäten und Traditionen. Der ecuadorianische Staat fördert die Ernährungssouveränität.“
Aber auch der Artikel 32 unserer Verfassung ist von zentraler Bedeutung für das praktische Umsetzen des Buen Vivir: „Die Gesundheit ist ein Recht, das vom Staat garantiert wird, deren Umsetzung mit der Ausübung anderer Rechte verbunden ist, darunter das Recht auf Wasser, Ernährung, Bildung, Sport, Arbeit, soziale Sicherheit, eine gesunde Umwelt und andere Rechte, die das Buen Vivir ausmachen.“
Was kann Europa und seine Länder von Ecuadors Wasserpolitik lernen? Wo sehen sie Übertragungs- bzw. Lernmöglichkeiten?
Ecuador kann als Vorbild dienen in Bezug auf das konsequente Verbot der Privatisierung von Wasser in der Verfassung sowie in dem diese auslegenden Wassergesetz aus dem Jahr 2014.
Auch dürfte es international als beipielhaft erachtet werden, dass wir in Ecuador zunächst dem menschlichen Wasserverbrauch die Priorität einräumen, danach kommt erst die Bewässerung für die landwirtschaftliche Selbstversorgung, Wasser für die Ökosysteme sowie letztlich sämtliche produktiven Sektoren im Land, welche mit Wasser z.B. ihre Produkte bearbeiten (vgl. Artikel 318, Verfassung von Ecuador).
In manchen Teilen Europas kommt es derzeit zu einem Hydropower-Boom. Aus Naturschutzperspektive bedroht dieser die letzten frei-fließenden Flüsse Europas; andere dagegen argumentieren, dass Wasserkraft eine relativ saubere Energiequelle für die wirtschaftliche Entwicklung ist. Wie ist dieser Konflikt aus der Perspektive der Verfassung Ecuadors zu denken?
In Ecuador nutzen wir die enormen Höhenunterschiede des Fließwassers von den Anden, so dass kaum Staudämme gebaut werden müssen. Der gerade genannte Gedanke aus dem Artikel 318 bietet aber den Hinweis auf ihre Frage: die industrielle Nutzung des Wassers steht in ihrer Priorität nach der Nutzung für den menschlichen Konsum, der Ernährungssouveränität und der Ökologie. Damit sind der Nutzung der Wasserkraft prinzipielle Grenzen gesetzt.
In einem „Youth Manifesto for Water Protection 2015“ haben Jugendliche aus ganz Europa ihre Vision für den Umgang mit Wasser formuliert. Dies geschah im Rahmen der Big Jump Challenge (BJC) – Jugendkampagne für Gewässerschutz in Europa. Was raten Sie den BJC-TeilnehmerInnen für die weitere Umsetzung ihrer Vision?
Das Engagement der Jugendlichen für dieses wichtige ökologische Thema der gesunden Flüsse ist wunderbar. Meines Erachtens sollte es allerdings zusätzlich noch um viel mehr gehen; unsere Kräfte sollten sich um den Schutz des gesamten hydrologischen Kreislaufs kümmern!
Noch einmal „gutes Leben“: Für die BJC-TeilnehmerInnen heißt das auch: in den eigenen Flüssen und Seen schwimmen & zu diesen eine eigenständige Beziehung zu entwickeln. Sie haben in Berlin studiert: welche Erinnerung haben Sie an ihr Studium an der Spree? Und waren sie während des Studiums in Spree oder Havel schwimmen?
Nein, ich war niemals in der Spree oder Havel schwimmen, da sie damals stark verschmutzt waren; das heißt während meiner Studienzeit in West-Berlin in den 1970er und frühen 1980er Jahren.
Die Jugend war in den 1970er Jahren eine wirkliche gesellschaftliche Kraft, die Vieles verändert hat, insbesondere kulturell, die Mentalitäten haben sich zur Zeit meines ersten Aufenthalts in Berlin als Student sehr positiv entwickelt wie ich damals spürte. Das heißt die Menschen haben damals zu einer großen Zahl sich bemüht, die Ursachen der Ungleichheit und der Armut zu verstehen und diese möglichst zu beseitigen. Deswegen habe ich sehr gute Erinnerungen an die West-Berliner Zeit, als eine Mehrzahl der Bürger sich politisch einbrachte und sehr viele Staatsbürger ihre gesellschaftspolitischen Forderungen und Ziele auch artikuliert und aktiv eingebracht haben. Ich hoffe, dass die BJC-Jugendlichen auf Ihre Weise dieses Engagement für die politischen Herausforderungen unserer Zeit fortsetzen
Weiterführende Information: Verfassung von Ecuador