In seiner Monographie „Rache, Gewalt und Versöhnung“ führt Luz Jahnen aus, dass unsere Kultur, die vor 4000 Jahren in Mesopotamien mit der Schaffung des ersten großen Staates unter Hammurabi ihren Ursprung hatte, eine Art Gründungsdefekt habe. Und der bestehe in der Institutionalisierung des Rachemechanismus.
J: Luz, was war da los vor 4000 Jahren?
L: Unter Hammurabi wurde ein Großreich geschaffen, das in seiner geographisch-politischen Dimension um ein Vielfaches die bisherigen Gebilde übertraf. Es handelte sich nicht mehr um einen Stamm, der von einem König regiert wurde, sondern um einen Vielvölkerstaat mit vielen Sprachen, vielen Religionen, geographisch sehr umfangreich. Um das regierungsfähig zu machen, wurden zum ersten Mal die Spielregeln der Gesellschaft nicht mehr der mündlichen Interpretation überlassen, sondern ein einheitliches Gesetz fest geschrieben – in Stein gemeisselt – in die Hammurabi Stele.
Worin ich den Defekt sehe, ist, dass die alten Formen der Stammesrache in die Fundamente dieser neuen Kultur eingelassen wurden. Die Ausführungen der Vergeltung sind übernommen worden als eine Form menschlicher Gerechtigkeit, aber nicht ihre Überwindung. „Du hast jemand das Bein verletzt, also wird Dir das Bein abgeschlagen“ „Du hast jemand das Ohr abgeschlagen, also wird Dir auch ein Ohr abgeschlagen.“ Um das riesige staatliche Gebilde regierbar zu machen, war es sicherlich notwendig, den ausufernden Racheformen der Stämme einen Riegel vorzuschieben. Es war ganz sicherlich ein Fortschritt und es war eine Ermöglichung neuer Formen des Zusammenlebens so vieler verschiedener Menschen. Es führte auch zu einer Explosion des Fortschrittes, der Technik. Die Sterndeutung und andere Wissenschaften hatten hier ihren Ursprung.
J: Aber Du sagst, dass es dieser Defekt in unserer Kultur ist, der es uns unmöglich macht, die richtigen Antworten auf die heutigen Konflikte zu finden. Kannst Du uns das genauer erklären?
L: Richtig. Es ist wie ein Webfehler. Als ob der Mensch versucht hat, sich ein neues Hemd zu basteln, mit dem vieles möglich ist, in das vieles reinpasst, viele Menschen, viele Projekte, aber in dem ein Webfehler drin ist, der sehr sehr entscheidend ist. Und der reicht von den zwischenmenschlichen bis hin zu den staatlichen Beziehungen.
J: Kannst Du da ein Beispiel nennen?
L: Ja. Im Bezug auf zwischenmenschliche Beziehungen: Du kannst mir eine äußere Verletzung zufügen. Das können wir auch äußerlich irgendwie ausgleichen. Aber der Mensch hat auch noch ein inneres Erleben, denn darüberhinaus ist eine Verletzung entstanden, dass du als anderer Mensch mir etwas zugefügt hast. Das beeinträchtigt mich, das ist wie ein Verlieren des inneren Gleichgewichtes. Es ist so, als solle mit einem äußeren Kompensieren eines Schadens die Balance wieder hergestellt werden. Aber das ist eine Illusion. Und das weiß auch jeder. Das weiß jeder, der aus einem Gerichtssaal rausgeht. Wir haben keine Elemente des inneren Ausgleichs, der inneren Versöhnung. Im Gegenteil stehen wir sehr hilflos und sehr ahnungslos vor diesen Situationen.
J: Was genau passiert denn in einem Menschen, wenn ihm Gewalt geschieht?
L: Nehmen wir das Beispiel einer Beleidigung. Nicht alles wirkt auf mich beleidigend. Andererseits können es auch Gesten sein, oder wie ich schaue oder sogar etwas, das ich nicht tue, das auf jemanden verletzend wirkt. Es sind Situationen, in denen das beschädigt wird, was ich als Ich als Meins bezeichne. Wenn Du mich an einem Punkt triffst, womit ich mich identifiziere. In meiner Arbeit habe ich eine Reihe von Beispielen genannt: meine Kinder, meine Fussballmannschaft, meine Nation. Oder Du bist stolz auf eine Fähigkeit: Ein guter Regipsverkleider und jemand sagt: Noch nie habe ich jemand gesehen, der so schlecht Regips verkleidet! Wir können zusammenfassen, Ich werde verletzt in dem, was ich als mein Bild von mir Selbst betrachte.
Das ist die Ursache. Und sie löst einen Mechanismus aus, der so ursprünglich ist, dass ich ihn weit zurück datieren würde in die Anfänge der Menschheit, die grauen Vorzeiten, vielleicht die Entstehung der menschlichen Spezies. Was geschieht, und das kann jeder nachvollziehen, wenn mir etwas widerfährt: ich verliere das Gleichgewicht, „man gerät aus der Fassung“, „ich fahre aus der Haut“, das sind so bildliche Bezeichnungen. Ich werde verletzt und dieses verletzte Ich sucht nach einer Verteidigung dieser lebensbedrohlichen Situation. Also sehr schnell, sehr instinktiv. Und gegen wen? Gegen den Bedroher, gegen den, der verletzt. Wenn man diesen Mechanismus in seiner ganzen Klarheit sieht und man sieht, dass das der Ursprung des Wunsches für Vergeltung ist und dass das in einer großen Kultur wie der westlichen eingegossen ist in die Institutionen… Bis heute ist dieser Defekt nicht ausgeglichen worden.
J: Es gibt Beispiele von Stammeskulturen, in denen andere Mechanismen als die der Rache angewandt werden.
L: Ja, es gibt Stammeskulturen, alte Kulturen, wo man, sicherlich durch Einsicht, Elemente des Ausgleichs findet, eine Art anderer Gesprächskultur. Wie zum Beispiel in Südafrika nach Ende der Apartheid, als in der Bevölkerung der Rachewunsch unglaublich stark war und es für viele der ausdrückliche Wunsch war, auch noch den letzten Weißen umzubringen. Da haben sich die führenden Leute zusammengesetzt und in ihren alten Kulturen gesucht und fanden in der Ubuntukultur das Bild der menschlichen Gesellschaft als ein Gewebe, das nicht verletzt werden darf. Beziehungsweise, wenn es verletzt wird, dann sollte man sehr aufpassen, dass es nicht weiter beschädigt wird, weil dieses Gewebe dann auch ganz zusammenbrechen kann. Diese alte Sichtweise haben sie damals verwendet, um die Wahrheits- und Versöhnungskommissionen in Gang zu setzen, um wirklich einen inneren Ausgleich zu versuchen. Aber in der gleichen Kultur waren auch die Racheelemente alle vorhanden.
Heute haben wir aber das zehnfache Problem, dass wir in einer Welt leben, in der alle Kulturen sich vermischen. Und heute haben wir in allen Kulturen das große Problem des Umganges mit dem Fremden. Da gibt es kaum kulturelle Elemente, auf die wir uns beziehen können. Viele haben ein Gefühl, einige haben Mitgefühl, aber viele haben auch schlechte Gefühle. Aber es fehlt ein gedankliches Konstrukt, wie wir das Miteinander meistern können.
Um noch ein staatliches Problem zu nennen: Seit 70 Jahren haben wir innerhalb Europas keinen Krieg. Darauf sind wir immer sehr stolz. Aber es ist nicht so, als wäre das eine wirkliche Freundschaft der Länder. Wenn dies alles auf den Prüfstand kommt, und es kommt jetzt alles auf den Prüfstand, sehen wir, dass die westliche Kultur keine Elemente des wirklichen Friedens hat. Man spricht von Frieden, meint aber nicht Frieden, sondern meint Geschäfte.
J: Du sagst also, wir haben keine Elemente, wir wissen nicht, was wir tun sollen. Was können wir also tun, wenn wir eigentlich nichts tun können?
L: Um es sehr prägnant zu sagen, wir müssen die Gewalt hinter unseren bürgerlichen Masken und in unserer Form des Zusammenlebens entlarven. Wir müssen sehen, mit welchen Gewaltmechanismen in zwischenmenschlichen, staatlichen und zwischenstaatlichen Beziehungen wir immernoch agieren. Wir müssen die Gewalt benennen. Nicht um Schuld zuzuweisen, sondern um klar zu sagen, was Gewalt ist. Ich glaube, dass wir heute eine Menge ganz einfacher Menschen finden werden, die längst verstanden haben, dass die Zukunft dieses Planeten gewaltlos sein muss. Für viele Leute ist es aber auch ein großes Bedürfnis, die Gewalt zu überwinden, weil sie entweder eine Sehnsucht danach haben oder weil sie die Erfahrung haben, dass ein Überwinden der eigenen Gewalt einen Zugang zu ganz anderen menschlichen Dimensionen erlaubt.
J: Gibt es denn auch hoffnungsvolle Anzeichen? Zum Beispiel die Bewegung der Indignados, die ja schon untereinander einen sehr gewaltfreien Umgang in der Kommunikation und Organisation und in ihrem Protest gesucht haben…
L: Absolut. Das macht einem total Hoffnung, als würde man eine neue Art der Sensibilität, gerade bei den jungen Leuten, spüren, die aber auch sehr fragil ist, die im nächsten Moment in manchen Ländern von den geschichtlichen Ereignissen hinweggefegt wird. Zum Beispiel in Ägypten, wo Rachekulturen dann den öffentlichen Raum übernehmen. Aber ich gebe Dir recht, es gibt eine neue Sensitivität, aber das wird etwas neues sein, das ist nicht mehr unsere westliche Kultur. Das hat schon den Geschmack von einer universellen menschlichen Kultur, die jeden Menschen respektiert, unabhängig von seiner Herkunft. Die Menschenrechtserklärung zum Beispiel, würde ich sagen, ist ein Dokument, das auch schon ein Vorläufer so einer universellen Kultur ist. Aber sie ist weit davon entfernt, Realität zu werden, weit entfernt. Aber als Dokument steht sie da, als leuchtendes Dokument.
J: Du hast von Anfang des Schreibens an vorgehabt, diesen Erkenntnissen auch Taten folgen zu lassen. Die Kampagne „Poetry against Arms“, über die wir auch berichten, ist so eine Folgeaktion. Du hast aber auch Workshops in verschiedenen Ländern zum Thema Rache und Versöhnung gemacht, kannst Du uns dazu etwas erzählen?
L: Ja, die Workshops hatten das Thema, wie funktioniert Rache und Gewalt in uns und in unserer Gesellschaft. Was für mich persönlich interessant dabei war, dass ich nicht der einzige Mensch bin, der diesen Dingen auf den Grund gehen möchte, und es hat mich überrascht, wieviele Menschen von teilweise extremer Gewalt betroffen sind. Inzwischen war ich mit diesem Workshop in Spanien, Argentinien, Chile, Frankreich und Deutschland und es haben besonders Menschen teilgenommen, die bereits irgendwo aktiv sind, entweder bei den Humanisten oder anderen Gruppen, wie zum Beispiel Leute, die sich für das Bedingungslose Grundeinkommen einsetzen. Sie waren nach dem Workshop für ihre Aktivitäten meist sehr inspiriert, aber es haben sich auch eigenständige Aktivitäten im Bezug auf das Thema der Rache entwickelt.
J: Habt Ihr auch über Versöhnung geredet?
L: Am Ende, wenn man sich über die Gewalt in einem selbst und in der Gesellschaft austauscht, hat das auch etwas sehr Versöhnliches.