Nach den schrecklichen Ereignissen in Paris, frage ich mich, wahrscheinlich wie viele andere auch, warum Frankreich das Ziel von Terroranschlägen geworden ist. Nun, ich habe da so eine Ahnung und gebe „warum Frankreich“ einfach mal in google ein. Zu meiner Überraschung finde ich nur wenige Treffer.
Das online Portal Bento, eine Art gentrifizierte Boulevardnachrichten für Hipster, kommt in seinen steckbriefartigen Analysen zu folgenden Erkenntnissen:
Frankreich sei an den Einsätzen gegen den IS in Syrien und dem Irak beteiligt. Frankreichs militärisches Engagement sei einer der Hauptgründe, warum Frankreich aus Sicht der Islamisten zu den größten Feinden zähle. Auch Frankreichs geografische Lage mache es für Terroristen aus den nordafrikanischen Ländern „nicht schwer“ nach Frankreich zu gelangen. USA sei zu weit entfernt. Zumal es sich meist eh um radikale Europäer handele, die sich zwischen den beiden Kontinenten bewegen könnten. Des Weiteren gäbe es in Frankreich eine islamische Szene, aus der der größte Teil der nach Syrien ausgewanderter Bürger stamme. Und natürlich soziale Ungleichheit. Frankreich habe schon lange ein Problem mit Integration, Diskriminierung und Arbeitslosigkeit. Es gäbe Menschen, die „keinen Platz in der Gesellschaft“ fänden und somit empfänglicher für radikale Gruppen seien.
Die Süddeutsche gibt in ihrer online Ausgabe vom selben Tag im Wesentlichen die eben genannten Argumente wieder. Nicht viel Neues. Einer der wenigen Treffer in Google ist noch Die Presse.com. Diese österreichische Nachrichtenplattform erweitert das Ganze noch haarscharf analysiert, um die Rolle Frankreichs als ehemalige Kolonialmacht in islamischen Ländern. Besonders Paris als „verhasster Wärter des Sykes-Picot-Tempels“ stoße bei radikalen Jugendlichen auf „offene Ohren“. Zum Abschluss widmet sich Die Presse.com noch der Doktrin Frankreichs als laizistischer Staat, der gerade deswegen für den IS der „große Satan“ wäre. 2004 wurden moslemische Kopftücher in den Schulen verboten und 2010 das Tragen von Burkas im öffentlichen Raum.
Viel mehr aussagekräftige Treffer von den Leitmedien gibt es zum jetzigen Zeitpunkt leider nicht (Stand 17.11.). Eine tiefgründige Ursachenanalyse wäre aber gerade in diesen Tagen wichtiger denn je. Die oben genannten Punkte sind zwar korrekt, Frankreichs Integrationspolitik hat versagt, der Staatsvertrag bröckelt, Frankreich hat Stellungen des IS seit September 2014 bombardiert. Jedoch bewegen sich die vorgestellten „Analysen“ für meinen Geschmack innerhalb des Mikrokosmos der gewohnten medialen Kurzsichtigkeit, weil sie es weder schaffen, das große Ganze zu erfassen noch die verheerenden Auswirkungen von Frankreichs Außenpolitik in nur einem Satz erwähnt werden, von den Opfern ganz zu schweigen.
Man könnte meinen, dass die militärischen Interventionen völlig ohne Tote ausgekommen sind. Nicht eine einzige Zahl – außer die der Opfer in Paris natürlich – fällt in einem der drei präsentierten Artikel von drei unterschiedlichen Medienagenturen. Wieso wird uns die Zahl der Opfer in Paris – mind. 126 Tote, 352 Verletzte, inklusive ihrer biographischen Details – die nächsten Wochen und Monate in jedem Lokalblatt begleiten, aber dem Ausmaß der Zerstörung unserer mittlerweile 14 Jahre andauernden militärischen Interventionen in der „Ursachenanalyse“ bestenfalls der Rang einer Fußnote zugewiesen werden?
Vergessen scheinen die, nach aktuellen Schätzungen, ca. 1,3 Millionen (!) toter Zivilisten (die allermeisten davon Muslime), die seit 2001 bei unseren bis heute leider ergebnislosen Bemühungen Demokratie, Menschen- und Frauenrechte in arabischen Ländern zu schaffen unglücklicherweise in der Ziellinie zwischen Gut und Böse standen.
Wir müssen uns endlich eingestehen, dass die westliche Wertegemeinschaft den gesamten Nahen und Mittleren Osten auf brutalste Art und Weise destabilisiert und Millionen Menschen, darunter viele Frauen und Kinder, ermordet hat.
Die Rassismus Forscherin Ruth Wodak spricht in ihrem aktuellen Buch „Politics of Fear“[1] von der Arroganz der Ignoranz. Ein Teil unserer Gesellschaft beherrscht diese Ignoranz auf so hohem Niveau, dass, trotz aller Beteuerungen der Mainstreammedien, aus den Millionen Opfern der arabischen Länder, Opfer „zweiter“ Klasse gemacht werden. Deren Schicksal uns dann ungefähr so interessiert wie, ein passenderer Ausdruck fällt mir jetzt gerade nicht ein, das Schicksal einer Amöbe in einem Scheißhaufen.
Und für noch eine Sache ist es wichtig, nicht zu viel Aufmerksamkeit auf unsere Schandtaten den Muslimen gegenüber zu widmen: stellen Sie sich doch mal vor, wir würden das Leid der Zivilisten im Nahen und Mittleren Osten, die verstümmelten Körper, die Menschen, die schreiend nach einem Raketeneinschlag panisch davonlaufen, die zerfetzten Kinder, das viele Blut auf den Straßen und all der restliche Wahnsinn, der in diesen Ländern tagtägliche Realität geworden ist, mit der Häufigkeit sehen und hören, mit der das dramaturgische Gesamtpaket der Anschläge in Paris in den nächsten Wochen und Monaten zu sehen und zu hören sein werden. Dann würde der gemeine Europäer vielleicht irgendwann ein Bewusstsein dafür entwickeln, was wir mit unseren Kriegen eigentlich alles angerichtet haben, dann würde die Sache mit den „militärischen Interventionen“ oder „chirurgischen Eingriffen“ nicht mehr funktionieren und dann wären wahrscheinlich nur noch Soziopathen oder anderweitig emotional stark gestörte Mitmenschen für eine „Festung Europa“.
Und, um dieser Ursachenanalyse schlussendlich noch eines von vielen fehlenden Puzzleteilen zuzuweisen: nicht zuletzt, haben wir bei dem Versuch, einige Taliban Kämpfer auszurotten, überhaupt erst jene Terrorgruppen geschaffen, vor denen die jetzt noch verbliebenen Bewohner fliehen. Und diesen verzweifelten Menschen wollen wir vor ihrer Nase am liebsten die Türe zuschlagen indem wir über eine Schließung der Grenzen nachdenken. Noch mehr kann man die Opfer eigentlich nicht verhöhnen.
Welch „schöne“ Überraschung war es dann doch, als vor dem Französischen Generalkonsulat in München folgendes „Plakat“ neben Trauerkerzen und Blumen auf die wahrscheinlich tatsächlichen Ursachen für die IS und deren Attentate aufmerksam machen will:
„Im Gedenken an die Opfer der westlichen Wertegemeinschaft (seit 2001):
2001: Angriffskrieg gegen Afghanistan (direkte Beteiligung Frankreichs als Bündnispartner der USA)
Zivile Todesopfer: ca. 20.000; indirekte zivile Opfer (Tod durch Kriegsfolgen, Verletzungen etc.): ca. 50.000
2001: Kriegsausbruch in Pakistan als direkte Folge des Afghanistan-Krieges
Zivile Todesopfer: 50.000; direkte zivile Opfer durch US-Drohnen: ca. 950; Binnenflüchtlinge: ca. 3,5 Millionen
2003: Angriffskrieg gegen den Irak (ohne UN-Mandat) (keine Beteiligung Frankreichs)
Zivile Todesopfer: ca. 500.000; indirekte zivile Opfer: unbekannt; Binnenflüchtlinge: ca. 5 Millionen
2011: Militärische Intervention in Libyen (direkte Beteiligung Frankreichs)
Zivile Todesopfer: ca. 1.000; verletzte Zivilisten: ca. 4.500
2011: Ausbruch des syrischen Bürgerkrieges
Zivile Todesopfer: ca. 250.000
2013: Finanzielle und militärische Unterstützung syrischer Oppositioneller und syrischer Rebellen (FSA), aus der später die IS entspringt, durch die USA und Großbritannien
2013: Aufhebung des Waffenembargos gegenüber den syrischen Rebellen durch Frankreich und Großbritannien
2013: Kriegerische Intervention in Mali (Staatsprojekt Frankreichs: Opération Serval)
Direkte zivile Opfer: ca. 150; Binnenflüchtlinge: ca. 30.000
2014: Beginn der Luftangriffe des französischen Militärs auf Stellungen des IS (Opération Chammal)
2013 bis heute: IS Terror
Zivile Todesopfer in Syrien und Irak: ca. 10.000;
Verletzte: unbekannt; Binnenflüchtlinge: ca. 12 Millionen;
Anschläge in Beirut am 12.11.2015: 43 Tote, ca. 200 Verletzte
Anschläge in Paris am 13.11.2015: 126 Tote, 352 Verletzte
Fortsetzung folgt… (?)
In Ermahnung an alle Regierungen, die Terror mit mehr Terror bekämpfen und Frieden mit Gewalt schaffen wollen.
In Erinnerung daran, dass wir den Sturm ernten, wenn wir den Wind sähen.“
So eine Ursache-Wirkung-Analyse hätte ich mir von den Großen im Mediengeschäft gewünscht. Gefunden habe ich sie bei zahlreichern Bloggern, Aktivisten und alternativen Medienagenturen im Netz.
Bleibt zu hoffen, dass sich kritisches Bewusstsein über die digitalen Medien, die sozialen Netzwerke und im direkten Austausch mit den Mitbürgern bildet und dem eingeschlagenen Kriegskurs unserer Regierungen mit Empathie und Verstand entgegenwirkt.
[1] Ruth Wodak, Politics of Fear. What Right-Wing Populist Discourses Mean, Sage Publications Ltd., University of Lancaster, 2015