Im Keller des COOP Antikriegscafé in Berlin Mitte, in einer beinahe konspirativen Atmosphäre, trafen wir uns mit Marianella Kloka von Pressenza Athen zum Griechisch-Deutschen Austausch. Sie ist eine jahrelange Aktivistin und Menschenrechtsexpertin und hat die Situation in Griechenland in den letzten Jahren hautnah mitverfolgt. Dies ist der Startschuss, um eine eine Plattform der direkten Kommunikation, um den Missverständnissen und Fehlinformationen von Medien und Politik zu begegnen.
„Dieses Jahr war ein sehr wichtiges in meinem Leben. Ein Meilenstein.“ fängt Marianella an, bevor sie die griechische Tragödie von dem Beginn der Krise vor uns aufrollt und dabei besonders auf die Stimmungen und Ansichten der Menschen eingeht. „Das vorherrschende Gefühl der letzten Jahre, das erste und zweite Memorandum begleitend, kann man am ehesten als Empörung und Wut bezeichnen. „Wut gegen wen oder was?“ fragt ein Diskussionsteilnehmer. „Es war klar, dass die Regierungen nicht in unserem Interesse handelten. Uns wurde erklärt, wir sollten mit Schulden fertig werden, von denen wir nicht wussten, woher sie gekommen waren, und mit nationalen Ausgaben, mit denen wir nicht einverstanden waren.“ Es habe keine Transparenz gegeben und das war eine sehr klare Forderung der protestierenden Leute. Die Politiker hätten keine Rechenschaft darüber abgelegt, was passiert war. Die Menschen hätten nicht verstanden, wie ein so hoher Schuldenbetrag akkumulieren konnte. „Ein Schulden Audit forderten wir und dass es Wirtschaftsuntersuchungen zu den olympischen Spielen und zu den während der Ende der Neunziger in den Börsenhandel geflossenen Gelder aus dem Sozialhilfesystem gibt.“
„Also begannen wir einen Protest der Griechischen „Indignados“, welcher nach etwa zwei Monaten der Versammlungen im Jahr 2011 brutal von der Polizei niedergeschlagen wurde, mit einer Menge Tränengas.“ Die Bewegung hörte hier auf und versuchte, eine Form des gewaltlosen Widerstandes an verschiedenen Orten zu entwickeln. Zu dieser Zeit hätten die meisten Proteste und Demonstrationen ein gewalttätiges Ende gehabt aufgrund von parastaatlichen Kräften (Menschen, die die Mission hatten, die Dinge durcheinander zu bringen, um die brutale Intervention der Polizei zu rechtfertigen).
„Es ist interessant, dass vor der Verabschiedung des zweiten Memorandums bereits ein Referendum vorgeschlagen worden war“, erinnert sich eine andere Teilnehmerin, „von Papandreou, der kurz darauf zurücktreten musste.“ „Ja, hier hat es eine sofortige Intervention der französischen und deutschen Regierungen gegeben. Das war der schlimmste Albtraum für die Institutionen, dass das Volk über sein Schicksal entscheiden könnte. Und stellt Euch vor: er wurde durch einen Ex-Banker ersetzt!“
„Im Jahr 2012, nach dem zweiten Sparpaket, hatten wir den Gipfel der Dunkelheit erreicht.“ erklärt Marianella. Der griechischen Bevölkerung sei vor Augen geführt worden, dass sie keinen Einfluss hat auf die Politik ihres Landes und die Angriffe der Sparpolitik auf die Schwächsten der Gesellschaft sich verstärken würden. „Es herrschte absolute Hoffnungslosigkeit.“
Und hier passierte etwas Interessantes. Die griechischen Bürger begannen, sich selbst zu helfen. Sie entwickelten alternative Wege des Rückhaltes. Zum Beispiel sei Menschen, die ihre Steuern nicht zahlen konnten, der Strom abgestellt worden. Daher wurden in vielen Orten illegale Überbrückungsleitungen gelegt. In den öffentlichen Verkehrsmitteln gab man noch gültige Tickets weiter, man kümmerte sich solidarisch um Essen für diejenigen, die es sich nicht mehr leisten konnten. Es gab Treffen zum Medikamentensammeln. Marianella sieht in diesen zahlreichen Aktivitäten Beispiele gewaltlosen Widerstandes. Sie dachte: „Wenn wir versuchten, uns wieder eigene Entscheidungsbereiche zu sichern, könnte das eine Antwort sein.“ Und die Regierung war besorgt. Schockierend für die Diskussionsteilnehmer hier im Keller ist, dass Polizei und Politik versuchten, diese solidarischen Massnahmen zu unterbinden. Suppenküchen wurden verboten. Auch Fahrkarten weiterzugeben wurde kriminalisiert. „Sie hatten Angst, dass die Menschen eine unabhängige soziale Plattform bilden könnten.“ vermutet Marianella. Und tatsächlich bildeten sich viele Netzwerke. Statt einer gemeinsamen Strategie habe es aber vielmehr eine gemeinsame Wellenlänge gegeben, eine gleiche Frequenz. Man wollte Antworten geben. Die sozialen Medien waren natürlich sehr hilfreich.
Schlimm sei allerdings auch, wie faschistische Parteien wie die Goldene Morgenröte, durch Basisarbeit in dieser Zeit gewinnen konnten. Sie organisierten medizinische Unterstützung für Renter, Essen für Schüler und erreichten dadurch einen hohen Prozentsatz bei den parlamentarischen Wahlen 2012. „Die Nationalismen sind überall in Europa eine große Gefahr“, meldet sich einer der Teilnehmer unseres Austausches zu Wort. „Um so mehr Europa in Krise ist, um so mehr machen sich irrationale Ideologien breit, die eine Lösung der Probleme durch Abschottung und nationalen Egoismus vorschlagen.“
Während dieser Zeit bildete sich auch Syriza. Es war eine politische Bewegung von der Strasse. „Einige Minister in der Syriza Regierung hatte ich vorher persönlich bei Protesten oder bei unterschiedlichen Gelegenheiten, die Verteidigung von Menschenrechten betreffend, kennengelernt.“ Die Europawahlen 2014 waren das erste Zeichen, dass Syriza tatsächlich eine Chance hatte. Dann bekamen sie bei den Kommunalwahlen die Region Attika. Langsam wuchs wieder Hoffnung in der Bevölkerung, denn diese Partei betonte bei allen Versammlungen und in ihrem Programm, dass sie ein Ende machen würden mit der Sparpolitik. „Die Menschen glaubten auch, dass Reformen nötig sind. Eine gerechte Steuerpolitik, eine bessere Verwaltung, Transparenz und Korruptionsbekämpfung.“ Aber es sollten Reformen sein, die von den Bürgern gefordert würden, nicht von ausländischen Mächten aufgezwungen. Syriza versprach im Parteiprogramm von 2014 all das: Häufige Volksabstimmungen, keine aufgezwungenen Reformen, echte Demokratie.
„Ein häufiger Vorwurf in Deutschland war, Syriza hätte nichts gemacht nachdem sie im Januar an die Regierung kamen. Schaut, jetzt sind sie an der Regierung und sie machen nichts!“ bemerkt eine Teilnehmerin. Marianella kontert, das sei nicht wahr. Sie hätten sofort, nachdem sie gewählt und mit Anel eine Koalition gebildet hatten, einige interessante Projekte gestartet. So hätten sie eine erleichterte Einbürgerung von Migranten eingeführt, sie hätten die Polizeikräfte wieder gezügelt, sodass Demonstrationen seither friedlich abliefen. „Ein gutes Projekt war die Möglichkeit für Schuldner, dass sie Zahlung in 100 Raten vereinbaren konnten. Das fand großen Zuspruch und viele Bürger fingen an, ihre Schulden durch diese Massnahme zurückzuzahlen.“ „Wurde hier in Deutschland über das griechische Schulden Audit berichtet?“ fragt Marianella zurück. Die Austauschteilnehmer verneinen oder sagen: „Ja, aber auf negative Weise.“ Die Parlamentspräsidentin Zoe Konstantopoulou hatte eine Kommission einberufen, die unter anderem aus Experten der UNO und EU bestand, um zu überprüfen, welche der Schulden des Landes überhaupt legitim sind und welche von korrupten Stellen, ohne Transparenz oder Nachhaltigkeitsprüfung gemacht wurden und daher dem griechischen Volk nicht aufgebürdet werden dürften. Der Abschlussbericht hatte ergeben, dass etwa ein Drittel der Schulden „illegal, illegitim und verabscheuungswürdig“ sei. Er war auf griechisch und englisch im Internet veröffenlicht worden. „Für die Griechen war das ein erstes Beispiel von Transparenz.“
In der Presse, sowohl der griechischen wie auch der anderer Länder (wenn sie überhaupt darüber berichteten), war das griechische Schulden Audit degradiert worden. Die griechische Presse sei absolut neoliberal und gäbe kaum Informationen, sondern vielmehr Meinungen, keinen guten Journalismus. Als Marianella gefragt wurde, über die griechische Situation zu berichten, habe sie sich daher darauf konzentriert, nur Fakten zu geben, nur Zahlen: 62% Jugendarbeitslosigkeit, 3 Millionen Menschen ohne Krankenversicherung, 91% des Geldes der „Hilfspakete“ floss in Banken, als Zinsen und um sie zu retten.
Als das Referendum kam, wurden die Banken geschlossen. Das war für viele ein Schock. Marianella sagt lachend: „Die meisten hatten garkein Geld auf der Bank.“ In dieser Zeit, welche Marianella als persönlich prägenden Moment bezeichnet und in der sie ein Tagebuch zu schreiben beginnt (das später zum Start der griechischen Pressenzaseite führt), beginnen die Menschen flexibel im Kopf zu werden. „Man diskutierte mit der Familie, mit Freunden, wie ein Leben ohne Geld möglich sei.“ Das sei gut gewesen, auch wenn es nicht aus Luxus heraus, sondern aus der Notwendigkeit heraus entstanden sei. Es habe die Möglichkeit eröffnet, „ausserhalb der Box“ zu denken.
„Wo steht Griechenland jetzt?“ ist die Frage eines Teilnehmers. Ein wichtiger Indikator sei, dass an den letzten Wahlen 46% der wahlberechtigten Griechen nicht teilgenommen hätten, erzählt Marianella. Das sind zwei Millionen weniger Wähler als beim Referendum. „Wie kann man ein Land regieren, in dem die Hälfte der Bevölkerung sich abwendet?“ In den Wahlkampagnen sei es nur darum gegangen, wer das dritte Memorandum am besten umsetzen könne. Jetzt nehme die Syriza-Anel Koalition eine positive ökonomische Massnahme der ersten Monate nach der anderen zurück.
Ein positives Zeichen habe es allerdings auch bei der Wahl gegeben. Der befürchtete Anstieg der Goldenen Morgenröte auf den Inseln, über die dieses Jahr 400 000 Flüchtlinge gekommen sind, habe nicht stattgefunden. Im Gegenteil habe diese rechte Partei stark verloren und Syriza hat auf den Inseln gewonnen. „Dieses Resultat zeigt, dass gerade da, wo die Menschen direkt mit den Flüchtenden in Kontakt kommen, menschliche Verbindung wichtiger ist als die Macht der Propaganda. Sie sehen die Menschen, Männer, Frauen, Kinder, als das, was sie sind: Flüchtlinge aus Kriegsgebieten.“
„Die existierenden Strukturen destabiliseren sich. Meiner Meinung nach erleben wir das Ende der repräsentativen Demokratie. Nicht nur in Griechenland.“ Wir müssten Alternativen entwickeln und dabei aus unseren gewohnten Denkmustern ausbrechen. Es gäbe viele interessante Beispiele wie man zum Beispiel die neuen Medien für Modelle direkter Demokratie nutzbar machen könnte, sagt Marianella.
Was sie über einen Grexit denke? Darüber habe sie keine abschliessende Meinung. Aber: „Für mich ist Europa keine Währung. Aus dem Euro auszutreten, heisst nicht, Europa zu verlassen. Und wenn es hilfreich ist, wie in diesem Moment zum Beispiel, sollte man es ernsthaft in Erwägung ziehen. Was mich ein wenig zögerlich macht, ist, dass ich den Glauben an unsere jetzige Regierung verloren habe, und sowohl innerhalb als auch ausserhalb des Euro muss jemand an den Reformen arbeiten, an Transparenz und einem gerechteren Verwaltungssystem.“ Die Diskussionsteilnehmer sind sich einig, dass das Fundament Europas nicht allein das wirtschaftliche Interesse sein solle, dies habe Europa in die Krise gebracht, in der es jetzt steckt, mit der es mit den jetzigen Strukturen nicht fertig wird. Das ist der Grund, warum wir diese Art Gespräche in Pressenza und auch live fortführen wollen, um gemeinsam „ausserhalb der Box“ zu denken.
Herzlichen Dank an Marianella für diesen lebendigen Abend!