Orban, Frontex, Dublin II und die Europäische Politik der Abschottung werden durch EU Bürger_innen, vor allem aus Österreich, die sich aktiv für die ungarischen Flüchtlinge einsetzen, aufs moralische Abstellgleis gestellt.
In Ungarn hatte sich seit Tagen die Situation der Flüchtlinge, die in Richtung Deutschland unterwegs sind, verschärft. Zu Tausenden harrten sie am Hauptbahnhof in Budapest aus, aber die Weiterreise wurde ihnen von der ungarischen Regierung verwehrt. Gleichzeitig wollte Ungarn nichts für die teilweise verletzten oder völlig erschöpften Männer, Frauen und Kinder tun. Dann liess man einige einen Zug nach Österreich besteigen, der sie direkt in ein Lager in Ungarn brachte. Es spielten sich herzzerreißende und brutale Szenen ab, als die Menschen erkannten, dass man sie in Ungarn einsperren wollte.
In all der Zeit schon fuhren Österreicher allein oder im Konvoi mit dem eigenen Auto hinüber, auf der Hinfahrt Getränke, Essen, Kleidung, im Rückgepäck immer eine Familie. Der Protest aus den Reihen der Bürger_innen war nicht sehr laut, aber tatkräftig. Gruppen fanden sich zusammen, organisierten sich und handelten statt zu reden.
Als die Menschen vor dem Budapester Hauptbahnhof schliesslich am gestrigen Tag den Entschluss fassten, gemeinsam in einem geschlossenen Marsch – damit die ungarische Polizei ihnen schlechter etwas antun kann – in Richtung österreichische Grenze zu marschieren, überschlugen sich im Netz und bei Twitter die Meldungen im deutschsprachigen Raum. Die Empörung über das Handeln der ungarischen und das nicht-Handeln der anderen EU Regierungen schwoll an. Die Flüchtlinge wanderten inzwischen an der ungarischen Autobahn entlang, wo sie auch übernachteten. Auf österreichischer Seite sammelten sich Hunderte von Freiwilligen, um die Flüchtlinge in Empfang zu nehmen. Unsere Wiener Korrespondentin Sabine Kroesen berichtet: „Es war wirklich beeindruckend, was unsere Leute alles in Gang gesetzt haben. Es kamen wirklich im Sekundentakt die Leute, Österreicher, Türken, Araber, alle Kulturen, die man sich vorstellen kann. Jeder wollte helfen.“
Heute schliesslich reagierte auch die Politik und der österreichische Bundeskanzler Faymann erlaubte den Flüchtlingen an der ungarischen Grenze die Einreise. „Aufgrund der heutigen Notlage an der ungarischen Grenze stimmen Österreich und Deutschland in diesem Fall einer Weiterreise der Flüchtlinge in ihre Länder zu.“ Es sollen nun Sonderzüge und –busse eingesetzt werden, das Rote Kreuz ist aufgerufen, in München heisst es, solle es unbürokratisch zugehen.
Unbürokratische Versorgung? Offene Grenzen? Sonderzüge und Sonderbusse? Die Regierungen von Österreich und Deutschland rennen der rasanten Entwicklung, die durch die Flüchtlinge angetrieben, aber durch ihre eigenen Bürger_innen beinahe euphorisch unterstützt wird, hinterher. Dinge sind möglich, die vorher undenkbar waren. Was war noch mit Dublin II?
Interessant, was die Bürger_innen erreichen können, sobald sie mit Überzeugung und Tatkraft anfangen, sich selbst zu organisieren. Weil sie nicht mehr auf die Politik vertrauen, die richtigen Entscheidungen zu treffen, weil sie es lieber selbst in die Hand nehmen wollen. Und dadurch zwingen sie die Politik, nach ihrem Willen zu handeln. Sabine: „Ich habe mich echt gefragt, wozu wir eigentlich noch Parteien brauchen.“ Es ist für viele ein Gefühl von demokratischer Machtübernahme, das wohl durchaus vergleichbar ist mit dem Berliner Mauerfall.
Und diese Erfahrung ist nicht mehr rückgängig zu machen. So sagt Sabine zu dem Vorhaben des Bundeskanzler, die Grenzen wieder dicht zu machen: „Jetzt wird es spannend. Denn für mich ist klar, dass wir irgendwie Druck ausüben müssen, dass die anderen Flüchtlinge, die noch in Ungarn festsitzen, auch ausreisen können. Und ich bin auch sicher, dass es viele Österreicher gibt, die das privat organisieren. Der zivile Ungehorsam ist in Aktion :-)“
Artikel von Sabine Kroesen: Welcome to Vienna