Das Bild des kleinen Flüchtlingsjungen Aylan, der tot am Strand von Bodrum liegt, erzeugte eine Welle der Bestürzung. Aylans Familie war aus der kurdischen Stadt Kobanî in Nordsyrien geflüchtet. Die Schwester des Vaters erklärte im Interview mit „Ottawa Citizen“, dass die Familie in ihrer Verzweiflung keinen anderen Ausweg gesehen hatte. Deshalb stiegen sie in ein Schlepperboot in Bodrum, um so auf die nahe gelegene griechische Insel Kos zu kommen. Bei der Überfahrt kenterte das Boot am Mittwoch, 12 Menschen starben. Unter ihnen waren der dreijährige Aylan, sein fünfjähriger Bruder Ghaleb und ihre Mutter Rihan Kurdi. Der Vater entschied, nach Kobanî zurück zu kehren, um seine Familienangehörigen dort zu beerdigen.
Der Nahostreferent von der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV), Kamal Sido, und die Redakteurin der Zeitschrift „bedrohte Völker – pogrom“, Sandy Naake, sprachen mit dem Journalisten Ster Chalo (SC) vom Radiosender ART fm, der in Kobanî lebt und an der Beerdigung teilgenommen hatte.
GfbV: Heute wurden Aylan, Ghaleb und die Mutter Rihan in Kobanî beigesetzt. Wie viele Menschen waren bei dem Begräbnis?
SC: Es waren allein 1.000 Menschen aus Kobani anwesend. So war auch die Großmutter von Aylan, Fatma Sheikho, dabei. Aber auch einige Verwandte aus der Türkei kamen zur Beerdigung.
GfbV: Die türkische Grenze zu Kobanî war lange Zeit geschlossen. Gab es deswegen Probleme durch die türkischen Behörden bei der Überführung der sterblichen Überreste?
SC: Die türkischen Behörden machten heute keine Probleme.
GfbV: Ist der Grenzübergang denn jetzt dauerhaft geöffnet?
SC: Nein, nur am Montag und Donnerstag wird der Grenzübergang geöffnet und zwar nur in eine Richtung, nach Kobanî. Lebensmittel dürfen nicht durch. Auch keine Medikamente oder andere lebensnotwendige Sachen. Eine Ausnahme gilt für Baumaterial von bestimmten Unternehmen, die sich in Kobanî am Wiederaufbau beteiligen.
GfbV: Die Beziehungen zwischen der Türkei und der kurdischen Kantone in Nordsyrien ist sehr angespannt. Waren denn offizielle Vertreter aus der Türkei bei der Beerdigung anwesend?
SC: Vertreter der pro-kurdischen Partei HDP sowie der oppositionellen CHP waren da. Darunter waren Aylin Nazlıaka und Sezgin Tanrıkulu von der CHP sowie Leyla Güven und Dilek Öcalan von der HDP.
GfbV: Sie haben mit dem Vater von Aylan, Herrn Abdullah Kurdi, gesprochen.
SC: Ja, ich habe mit ihm und der Großmutter der Kinder gesprochen. Beide sind völlig fassungslos über den schrecklichen Tod der Kinder und der Mutter. Der Vater sagte mir: „Ich bin sprachlos, ich muss das alles noch verarbeiten. Ich muss erst einmal zu mir finden. Ich will die Stelle, an der meine Frau und meine Kindern begraben sind, nicht verlassen. Ich würde dort gerne ein Haus bauen, damit ich immer bei ihnen sein kann.“
Aber er appellierte auch an die Kurden vor Ort und an andere Minderheiten in Syrien, dass sie, soweit es ihnen möglich ist, das Land nicht verlassen sollen. Sie bringen sich durch eine Flucht in große Gefahr. Schlepper, die gefährliche Überfahrt übers Meer. Das alles nimmt Menschen tagtäglich das Leben. Er will, dass alle in Syrien wissen, dass viele in Europa die Flüchtlinge nicht mit offenen Armen empfangen. Daher sollen die Menschen lieber in der Heimat bleiben. Er fordert, dass der Westen die Zivilbevölkerung in Syrien, vor allem in den (kurdischen) Kantonen unterstützt. Dann müsste niemand fliehen.
GfbV: Wie kann der Westen denn den Menschen in Nordsyrien, in Kobanî, Afrin und Cazire, helfen?
SC: Die Grenzübergänge in diese Enklaven müssen unbedingt geöffnet werden. Deshalb muss mehr Druck auf die Türkei ausgeübt werden.
GfbV: Sollten auch die Selbstverwaltungen der kurdischen Kantone und die kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) unterstützt werden?
SC: Auf jeden Fall, auch wenn die Verwaltungen noch viele Fehler macht. Auch wenn noch viele Konflikte und Probleme existieren, wie etwa im Menschenrechtsbereich. Die bestehenden Selbstverwaltungen in Kobanî, Afrin, Cazire müssen in jedem Fall beim Aufbau einer Infrastruktur geholfen werden. Strom, Trinkwasser und andere Grundbedürfnisse müssen gesichert werden. Dabei sollte der Westen die kurdischen Kantone unterstützen. Auch die YPG muss unterstützt werden. 95 Prozent der Bevölkerung stehen hinter der YPG. Ohne sie wären wir hier verloren. Die YPG kämpft tagtäglich darum, dass das Gebiet zwischen Kobanî und Afrin vom „Islamischen Staat“ (IS) und anderen Radikalislamisten befreit wird. Bis heute werden von diesem Gebiet aus noch Dörfer in der Region Kobanî beschossen. So lange dieses Gebiet vom IS kontrolliert wird, sind die Menschen in Afrin und Kobanî bedroht.
GfbV: Kobanî wurde letztes Jahr berühmt, als der IS erst die Stadt eingenommen und dann von der YPG mit internationaler Unterstützung vertrieben wurde. Wie ist denn die aktuelle Lage in der Stadt?
SC: Die Lage ist stabil und unverändert. Momentan leben etwa 60.000 Menschen in der Stadt. Die Versorgung mit Lebensmitteln war lange Zeit ein Problem, da keine Lebensmittel über die Grenze zur Türkei geliefert werden können. Nach der Befreiung von Tell Abyad im Juni wurden die beiden Kantone Kobanî und Cazire (Hasakeh) miteinander verbunden, wodurch es möglich wurde, Lebensmittel in die Stadt zu liefern. Die Menschen in Kobanî können jetzt also wieder Essen kaufen, doch die Lebensmittel sind sehr teuer. Aber mit den Lebensmittellieferungen hat sich die Lage ein wenig verbessert.
Pressemitteilung der Gesellschaft für bedrohte Völker