Die Frau in der islamischen Gesellschaft und Politik stellt für mich in unserer schwierigen Zeit, die einerseits durch steigende Islamfeindlichkeit im Westen und andererseits durch die vorherrschende Rechtfertigung von Gewalt und Unterdrückung im Namen eines kriegerischen und frauenfeindlichen „Islam“, eines der bedeutendsten Themen dar, um die Entwicklung des islamischen Denkens zu fördern und zu entwickeln. Daher sollte man sich auch immer mehr mit den Themen und Methoden des islamischen Feminismus auseinandersetzen, der für mich eine Bemühung beider Geschlechter sein muss, wie es schon Zaynab al-Ghazali formuliert hatte.
Innerhalb der vielfältigen und vielschichtigen Frauenrechte finde ich die sozio-politischen Rechte in der heutigen postmodernen Zeit in der muslimischen Debatte die bedeutendsten, weil es darum geht, die Frau wieder als sozio-politisch agierende Kraft in die sichtbare Dimension der Gesellschaft zu bringen, wie es zu Beginn des Islam der Fall war und von der sie dann Schritt für Schritt verdrängt wurde.
Diese These führte mich direkt zum ersten methodologischen Ansatz im historischen Bereich, wie ich ihn zum Beispiel in feministischen Autorinnen wie der marokkanischen Soziologie Fatima Mernissi, der osmanischen Prinzessin Kadriye Hüseyn oder der türkischen Historikerin und Islamwissenschaftlerin Bahriye Üçok klar wiederfinden konnte. In diesen Texten finden sich äußerst interessante Rekonstruktionen von Biografien muslimischer Herrscherinnen in verschiedenen muslimischen Kulturen und Regionen der Geschichte. Diese Frauen heute erneut zum Leben zu erwecken und an ihr politisches Leben und an ihren Kampf auf der Bühne der Macht zu erwähnen, finde ich sehr wichtig, um das sozio-politische Leben der Frau in der muslimischen Geschichte zu betonen und aufzuzeigen, wie wichtig der Beitrag der Frau an der Gestaltung der islamischen Gesellschaft heute sein soll.
Aber diesen historisch-politologischen Ansatz vollkommen von der Männerwelt zu isolieren und ihn nicht in einen islamischen Feminismus im weitesten Sinne zu integrieren, ist aber ein großer Fehler dieser Autorinnen, auf den ich in meinen Arbeiten über den islamischen Feminismus und seine dialogische Notwendigkeit aufmerksam mache. Der Dialog mit den Männern lässt sich aber, bis auf wenige Ausnahmen, wie z.B. dem ägyptischen Schriftsteller Mahmud Badawi der das Leben der muslimischen Herrscherin Shejer ud-Durr in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts in einer Tragödie verarbeitet hat, nicht auf dieser Ebene führen, da die männlichen Forscher sich eher auf einer theoretischen und Quellen-orientierten Ebene mit dem Thema der sozio-politischen Rechte der Frau im Islam auseinandersetzen. Sie beschäftigen sich mit Koranexegese und mit dem Studium der Hadith und stoßen so auf traditionelle Rechtfertigungen, um die Frau aus der sozio-politischen Arbeit zu verdrängen. Eine wichtige Ausnahme ist in diesem Bereich aber der Muslimbruder Abdulhalim Abu Shaqqa (1994-1996) mit seinem bahnbrechenden Werk in sechs Bänden mit dem Titel „Die Befreiung der Frau zum Zeitalter der Offenbarung“.
Aufgrund der Aktualität der ägyptischen Muslimbruderschaft in den letzten Jahren und vor allem infolge der brutalen Unterdrückung der Bewegung nach dem Putsch und im Regime von Abdulfattah al-Sisi im heutigen Ägypten finde ich die Überlegungen von Abu Shaqqa innovativ und wichtig, um die Einbeziehung der Frau in Gesellschaft und Politik neu zu erläutern und auf die Zeit des Propheten (sas) zurückzublicken, um der Frau heute neue bzw. vergessene Wege hin zum sozio-politischen Handeln im Sinne des Islams zu zeigen.
Zu Beginn des Islams nahm die muslimische Frau in allen Bereichen am politischen und gesellschaftlichen Leben der Umma teil. Trotz und gerade aufgrund der geschlechtlichen Unterschiede und Besonderheiten prägte sie sehr stark die Entwicklung der neuen muslimischen Gemeinde. Die Partizipation der Frau wurde dann in den darauffolgenden Jahrhunderten verdrängt und unterdrückt. Die Frau wurde in die Segregation getrieben und verschwand Schritt für Schritt aus Gesellschaft und Politik. Wenn wir aber, wie Abu Shaqqa es tut, auf Sunna und Sira zurückgreifen, entdecken wir diese Dimension der Teilnahme der Frau am gesellschaftlichen und politischen Leben für uns heute ganz neu. Wie Zaynab al-Ghazali so schön sagte, verfehlen wir das Ziel, wenn wir nicht einsehen, dass die Frau die Schwester des Mannes ist und somit in die Gesellschaft und in die Politik gehört, weil sie eine treibende Kraft der islamischen Gesellschaft ist.
Politik und soziopolitisches Handeln bedeuten für mich heute Islampädagogik, Erziehung zum soziopolitischen Bewusstsein und Erziehung zum soziopolitischen Engagement nicht als Recht der Frau, sondern als ihre Pflicht zwecks dynamischer und produktiver Mitgestaltung der muslimischen Gesellschaften. Abu Shaqqa ist das Paradebeispiel eines muslimischen Traditionalisten, der den wahren Kern des Islam als Bewegung der Befreiung der Frau erfasst und darauf fokussiert, den Islam genauso zu leben, wie er ist, nämlich frauenfreundlich. Daher schreibt der bedeutende ägyptische Islamtheologe Muhammad al-Ghazali al-Saqqa (1917-1996) in der Einführung zum Buch von Abu Shaqqa:
„Dieses Buch führt die Muslime zurück zur richtigen Sunna ihres Propheten, ohne etwas hinzuzufügen und ohne etwas wegzunehmen“.
Gerade mit Hilfe von Texten wie denen von Abu Shaqqa wird es den muslimischen Gesellschaften heute gelingen, eine holistische und egalitäre Hermeneutik aufzubauen, die sich von hierarchischen, monistischen und sexistischen Standpunkten entfernt.
Es stimmt, dass der Weg dorthin steil und voller Hindernisse ist, aber mit einer solchen Hermeneutik kann dann der Sklaverei, Unterdrückung, Genitalverstümmelung und körperlichen und seelischen Gewalt gegen Frauen der endgültige Kampf angesagt werden. Nur so versöhnt sich der Islam mit sich selbst. Denn was wäre ein rein männlicher Islam ohne den Beitrag der Frau? Was wäre die Umma ohne die Teilnahme und den Beitrag der Frau in allen Bereichen?
In allen meinen Werken über den islamischen Feminismus geht es mir um die Vielfalt der Ansätze, die sich so harmonisch miteinander in ein holistisches Modell zusammenfassen lassen. Vor allem sehe ich in diesem Zusammenhang drei methodische Linien:
- Den historisch-biographischen Ansatz, wie ich ihn anhand des Werkes von Bahriye Üçok (1919-1990) und in der Tragödie von Mahmud Badawy (1908-1986) aufgezeigt habe: hier geht man der biographisch-historischen Rekonstruktion des Werdeganges und Schicksals herrschender Frauen in der islamischen Geschichte nach und identifiziert ihre Eigenschaften und das innovative Potential für die politische Arbeit der Frau im Islam heute; dieser Ansatz findet sich im Besonderen bei Prinzessin Kadriye Hüseyn (1888-1955) und der marokkanischen Soziologin und Feministin Fatima Mernissi (*1940) in ihrem bekannten Buch Les Sultanes oubliées.
- Den komparatistisch-hermeneutischen Diskurs, wie ich ihn anhand des Essays von Prof. Abdulhamid al-Ansari vorgestellt habe, der analytisch erläutert, wie es zu den verschiedenen Standpunkten zum Thema der politischen Rechte der Frau im Islam gekommen ist und warum. Das ist ein Ansatz hin zu einer Versöhnung und Akzeptanz der verschiedenen Sichtweisen innerhalb der muslimischen Gemeinde, ein Ansatz, der uns im intra-islamischen Dialog sehr weit führen kann, weil wir auch die Männer in den islamischen Feminismus einbeziehen. Was al-Ansari besonders auszeichnet, ist, dass er nicht verurteilt, sondern erläutert und kommentiert. Eine interessante hermeneutische Studie über die weibliche Lektüre des Korans stammt von der afroamerikanischen Konvertitin und Feministin Amina Wadud (*1952), die in ihrem genialen Buch einige Tore hin zur Versöhnung und Gleichberechtigung der Geschlechter öffnet. Dasselbe kann man vom ägyptisch-kanadischen Islamexperten Jamal Badawi sagen, der auch hermeneutisch arbeitet und damit die Gleichberechtigung der Geschlechter im Islam beweist.
- Den Sira-orientierten Ansatz von Abu Shaqqa, der das Leben des Propheten (s) innerhalb der Islamwissenschaften erneut aufwertet und auf diese Weise aufzeigt, wie revolutionär und Frauen-befreiend der Islam in seinem ursprünglichen Kern und in seiner Epoche war.
Die „Un“-Rechte der Frau, die ich als Ausdruck der sogenannten „horizontalen Segregation“ der Frau bezeichne, sind Erfindungen der Muslime und sind in ihren Köpfen so verankert, dass es Texte wie die von Abu Shaqqa heute braucht: er hält den Muslimen Koran und Sunna vor, um ihnen zu zeigen, wie frauenfreundlich der Islam ist. Es erübrigt sich somit die Frage, ob Frauen Rechte in der islamischen Politik und Gesellschaft haben. Denn der Islam sprach sie ihnen von Anfang an zu. Die ersten Muslime lebten diese Rechte in ihrem Alltagsleben. Und diese Rechte müssen auch heute der Frau zuerkannt werden: der Weg, der dorthin führt, geht für Abu Shaqqa über Pädagogik und Bewusstseinsbildung, die Pfeiler der islamischen Politik und Ethik.
Das Buch ist hier erhältlich: Die Frau in der islamischen Gesellschaft und Politik nach Abdul Halim Abu Shaqqa