WikiLeaks geht in die Offensive. Nach umfassenden Enthüllungen zur NSA-Spionage in Frankreich und der Veröffentlichung des Kernstücks des geplanten TiSA-Freihandelsvertrages, spielt die Leakingplattform nun auch eine erste NSA-Selektorenliste sowie Abhörprotokolle von vertraulichen Gesprächen von Bundeskanzlerin Merkel der Öffentlichkeit zu. Das Anliegen der US-Amerikaner die Aufklärung der massenhaften Rundum-Spionage zu verhindern, könnte damit nach hinten losgehen.
Nachdem WikiLeaks vor genau einer Woche umfangreiche Dokumente veröffentlichte, welche die US-amerikanische Spionage gegen den gesamten französischen Politbetrieb sowie der Wirtschaft belegen, legt die Leakingplattform nun mit weiteren Enthüllungen zur Überwachung deutscher Politiker nach. In der dazu gehörigen Presseerklärung heißt es:
„Die NSA hat umfangreich Telefonnummern von Bundesministern und Spitzen-Beamten aus dem Bereichen Wirtschaft, Finanzen, Handel und Landwirtschaft ins Visier genommen – einschließlich des persönlichen Assistenten von Angela Merkel. WikiLeaks veröffentlicht dazu heute (1.Juli) eine Liste mit 69 Regierungs-Telefonnumern, die aus einer NSA-Überwachungsliste stammen und die die seit zwei Jahrzehnten andauernde Wirtschafts- und Politik-Spionage gegen Deutschland belegen. Die daraus resultierenden geheimen Abhörprotokolle zeigen unter anderem, wie die USA und Großbritannien deutsche Spitzenbeamte ausspionieren, als diese ihre Positionen und Meinungsverschiedenheiten in Bezug auf die Lösung der griechischen Finanzkrise diskutieren.“
Besonders heikel: Merkels Positionen zur Schuldenkrise in Griechenland und ihre politischen Differenzen mit Wolfgang Schäuble, der französischen Regierung und den transnationalen Funktionären Jose Manuel Barroso, Jean-Claude Trichet und Christine Lagarde landeten 2011 direkt auf dem Schreibtisch der britischen und US-amerikanischen Geheimdieste und des US-Präsidenten.
Ebenso protokolliert ist Merkels Vorhaben, die USA und Großbritannien unter Druck zu setzen, eine internationale Finanztransaktionssteuer nicht weiter zu blockieren. Internationale Politik und die Verhandlung verschiedener Interessen werden letztlich zur Farce, wenn eine Seite alle kommunikativen Details der anderen Seite kennt.
Neben den Abhörprotokollen veröffentlichte WikiLeaks auch eine erste Selektorenliste der NSA. Informationen um die sich im politischen Berlin seit Monaten ein erbitterter Streit dreht. Die Opposition und die Mitglieder des NSA-Untersuchungsausschusses verlangen Einsicht in die Liste der Spähziele der US-Amerikaner auf deutschem Boden. Angela Merkels Regierung verweigert hingegen den gewählten Parlamentariern auf Geheiß aus Washington dieses Recht. Die Causa wurde von vielen Kommentatoren als neuer Tiefpunkt postdemokratischer Verwahrlosung in Deutschland gewertet.
Doch oft führen Versuche, begehrte Informationen gezielt zu unterdrücken eher zum Gegenteil. So auch im Falle der Selektoren. Anstatt, dass diese nur von einem geheimen Gremium eingesehen werden, oder gar von einem „Sonderermittler“, wie von Merkel gewünscht, kursieren diese nun frei im Internet – zumindest in Teilen.
Der erste nun von WikiLeaks veröffentlichte Satz von Selektoren ist überschaubar, hat es jedoch in sich. Neben einem Telefonanschluss bei der Europäischen Zentralbank befinden sich 68 Fax- und Telefonnummern aus deutschen Bundes-Ministerien aus dem Bereich Wirtschaft – konkret: Das Finanzministerium, das Wirtschaftsministerium sowie das Landwirtschaftsministerium – auf der Spähliste. Das Datensammel-Interesse der US-amerikanischen NSA reicht dabei von den jeweiligen Behördenchefs über die administrativen Zentralen bis in einzelne ministeriale Fachreferate. Die Spionage findet mindestens seit den 90er-Jahren statt und es kann stark daran gezweifelt werden, dass diese mittlerweile eingestellt wurde.
Besonders absurd in diesem Zusammenhang sind die Stellungnahmen von Bundesinnenminister Thomas de Maizière und dem Chef des Innlandsgeheimdienstes Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen, die noch vor wenigen Tagen auf der Bundespressekonferenz gegenüber dem freien Journalisten Tilo Jung erklärten, für eine NSA-Überwachung in Deutschland gebe es keinerlei Anhaltspunkte. Auch wurden die Ermittlungen des Generalbundesanwalts wegen dem Abhören von Merkels Handy durch die NSA kürzlich eingestellt. Die Behauptung auch hier: Es gäbe keine Belege.
Die Frage, wie die Politi-Elite der Bundesrepublik Deutschland eine souveräne Politik machen soll, wenn jeder ihrer Schritte von einem fremden Geheimdienst überwacht wird, bleibt dabei ungeklärt. Besonders brisant sind die Spähaktivitäten, da die betroffenen Ministerium auch eine maßgebliche Rolle bei den Verhandlungen der von den USA angetriebenen Freihandelsabkommen TTIP und TiSA spielen. Akteure, die in den Ministerien den Verträgen eher kritisch gegenüberstehen, können leicht vom US-amerikanischen Geheimdienst identifiziert und ausgeschaltet werden. So ist es sicher kein Zufall, dass WikiLeaks gestern fast zeitgleich mit den NSA-Leaks auch das Kernstück des geplanten TiSA-Vertrages veröffentlichte. Das Bundeskanzleramt hat derweil, als Reaktion auf die WikiLeaks-Enthüllungen, den US-amerikanischen Botschafter in Berlin zum Gespräch eingeladen.
Aus dem RT Deutsch-Archiv: