Interview mit Oleg Musyka, Augenzeuge und Überlebender des Anschlages auf das Gewerkschaftshaus in Odessa vor einem Jahr. Er musste danach fliehen und lebt jetzt in Deutschland.
Das Interview wurde geführt von Brigitte Queck, Leiterin des Vereines „Mütter gegen den Krieg Berlin-Brandenburg“, Völkerrechtlerin und Verfasserin des Buches „Die Ukraine im Fokus der NATO. Russland das eigentliche Ziel„, welches sich ausführlich und mit Dokumenten belegt mit den Ereignisse vor, während und nach dem Regimewechsel in der Ukraine auseinandersetzt und bereits in der 4. Auflage erschienen ist.
Anlässlich des Abschlusses der Untersuchungen dieses Anschlages hatte Pressenza vor zwei Monaten dazu auch Oleg Yazinsky interviewt.
B.: Woher kommst Du? Was hast Du früher gemacht?
O.: Ich bin Ukrainer und Bürger der Stadt Odessa. Jahrelang habe ich als Matrose der Schwarzmeerflotte gedient. Ich gehöre seit 2009 der Partei Rodina an und wurde von meiner Partei zum Berater des Abgeordneten meiner Partei in die Stadtverwaltung der Stadt Odessa gewählt. Im November 2013 war ich der Verantwortliche des Anti-Maidan auf dem Kulikower Feld.
B.: Welche Ziele vertrat der Anti-Maidan in Odessa?
O.: Unsere Partei vertrat von Anfang an eine Politik der Föderalisierung der Ukraine. Wir strebten eine Zollunion mit Russland, Belorussland und Kasachstan an, die russische Sprache sollte als zweite Staatssprache der Ukraine erlaubt bleiben, die Prinzipien des Sozialismus, als da sind: kostenfreie Bildung, kostenlose medizinische Betreuung, soziale Maßnahmen auf dem Gebiet des Wohnungsbaus und der ständigen Verbesserung des Lebens der Bürger, sollten auf dem Gebiet der Zollunion gelten. Mit anderen Worten, wir wollten eine würdige Gesellschaft aufbauen, in der das Wort Demokratie nicht nur eine Worthülse ist.
B.: Wie viele Opfer gab es tatsächlich am 2. Mai 2014 im Gewerkschaftshaus in Odessa?
O.: Offiziell wird von 48 Opfern gesprochen. In Wirklichkeit kamen 116 Menschen ums Leben.
B.: Wie ist das zu verstehen?
O.: Nach Verständnis der UNO und auch europäischen Gesetzen, spricht man ab 50 Personen von Genozid (Völkermord). Mit anderen Worten, die derzeitigen Kiewer Machthaber halten die wahre Zahl der Opfer bewusst geheim.
B.: Warum ist es Deiner Meinung nach überhaupt zu solchen gewaltsamen Ausschreitungen im Odessaer Gewerkschaftshaus gekommen?
O.: Nach der Volksbefragung auf der Krim befürchtete die derzeitige ukrainische Regierung, dass sich auch in Odessa der russische Einfluss durchsetzen könnte und das wollte sie unter allen Umständen verhindern.
B.: Wie konnte es zu so einem fürchterlichen Überfall der Rechten auf die Bewegung des Anti-Maidan überhaupt kommen?
O.: Wir hatten ein großes Volksfest auf dem Kulikower Feld organisiert und überall Zelte und Stände aufgestellt. Schon am frühen Morgen kam die Polizei und, wie sich später herausstellte, sogar in Begleitung hoher Kiewer Beamten, die unsere Zelte nach Waffen untersuchte. Das war eine klare Einschüchterung unserer Leute. Doch die Menschen aus Odessa ließen sich nicht abschrecken. Sie kamen zu Tausenden auf den Veranstaltungsplatz. Am gleichen Tage fand auch ein Fußballspiel statt, zu dem der rechte Sektor per Internet mobilisiert hatte. Die Anhänger der Rechten fingen nach dem Fußballspiel an, in der Stadt zu randalieren, das Pflaster aufzureißen, Bürger anzupöbeln und mit Stöcken zu schlagen und Steinen zu bewerfen. Das alles wurde im Fernsehen übertragen, ohne dass die Polizei von Odessa eingriff. Die Meinung unserer Gruppe war geteilt, ob wir uns diesen Rechten entgegenstellen sollten. Die Mehrzahl von uns wollte etwas tun und ging diesen Randalierern entgegen. Da die Rechten an diesem Tag klar in der Überzahl waren, liefen wir zurück zum Kulikower Feld. Die Rechten schlugen wild, auch auf einfache Passanten, ein, so dass sich die Leute im nahe gelegenen Gewerkschaftshaus verbarrikadierten. Anscheinend hatten die Rechten ihre Aktion genau geplant und vorbereitet. Sie hatten Molotowcocktails, Schlagstöcke und Pistolen bei sich. Obwohl die Menschen aus dem Gewerkschaftshaus und ihre Angehörigen zu Hause, die Polizei und die Feuerwehr anriefen, griffen weder die Polizei, noch die Feuerwehr, die sich unweit des Gewerkschaftshauses befand, in dieses mörderische, blutige Treiben ein. Nicht mal, als das Gewerkschaftshaus schon lichterloh brannte!
B.: Was geschah danach?
O.: Erst in den Morgenstunden erschienen die Polizei und die Feuerwehr. Die Überlebenden waren zum Teil schrecklich verletzt und traumatisiert. Etwa 200 Menschen wurden ins Krankenhaus und über 100 Menschen aufs Polizeirevier gebracht und verhört, wo man schon Listen vorbereitet hatte, die die Überlebenden unterscheiben sollten. Allesamt wurden regierungsfeindlicher Handlungen beschuldigt! Nach einem Jahr befinden sich noch 21 Menschen in Untersuchungshaft und 10 der Überlebenden des Gewerkschaftshaus-Massakers sind im Gefängnis, während diejenigen, die an diesen Verbrechen beteiligt waren, in der Odessaer Stadtverwaltung, ja sogar im Kiewer Parlament sitzen!
B.: Wie bitte, die Täter laufen frei herum, ja, sie sitzen sogar im Parlament?
O.: Ja, Alexej Gontscharenko ist Parlamentsabgeordneter vom Poroschenko-Block, Andrej Jusow ist Vorsitzender der Partei Udar von Klitschko und Sewo Kontscharewskij, derjenige, der die Opfer, die sich durch einen Fenstersprung aus dem brennenden Gewerkschafshaus retten wollten, unten erschlug, sitzt heute als Vertreter einer gesellschaftlichen Organisation im Stadtrat Odessas.
B.: Wie ist die politische Situation in Odessa?
O.: Zum Gouverneur der Stadt Odessa wurde Saakaschwili, der ehemalige Minister des Inneren von Grusinien ernannt, der in seinem Land wegen Korruption gesucht wird. Wie zum Hohn wurde am 12.6.2015 von der Stadtverwaltung Odessas die Entscheidung getroffen, ein Denkmal zu Erinnerung an die am 2. Mai 2014 im Gewerkschaftshaus umgebrachten Menschen zu errichten. Doch die Menschen der Heldenstadt des Großen Vaterländischen Krieges im Kampf gegen den Faschismus vergessen nicht, wer deren Mörder sind, die heute ihre schrecklichen Taten damit rechtfertigen, dass die Opfer gegen die gesetzmäßige, in Wirklichkeit durch einen blutigen Regimechange zur Macht gekommene, Kiewer Regierung vorgehen wollten. Die einstmals fraktionsstärkste Partei von Janukowitsch wurde im ganzen Lande verboten. Es wurden vom Kiewer Parlament Gesetze verabschiedet, die: das Tragen von kommunistischen und russischen Symbolen unter Strafe stellen, das Niederreißen von Denkmälern, die an die Zeit der Oktoberrevolution, oder den Großen Vaterländischen Krieg erinnern, ausdrücklich gestatten, das Verbot regierungskritischer Zeitungen, das Durchsuchen von Räumlichkeiten gesellschaftlicher Organisationen und Beschlagnahmung von Computern anordnen und „separatistische Handlungen“, wie zum Beispiel die Weigerung, als Soldat in der ukrainischen Armee zu dienen, mit dem Tode bestrafen können.
Rechte Schlägertruppen sollen für Angst und Duckmäusertum der Bevölkerung sorgen und diejenigen, die die Dreckarbeit für die nunmehr Regierenden erledigen, werden bei Bekanntwerden von deren Tötungen, zum Beispiel regierungskritischen Journalisten, wie Oles Busina, durch Zahlung sehr hoher Kautionen der reichsten Oligarchen vor Ort freigelassen.
B.: Ist die Kommunistische Partei der Ukraine noch aktiv?
O.: Seit dem von den USA geförderten Regimechange in der Ukraine am 22.2.2014 wurden neben bekennenden Mitgliedern der Partei der Regionen von Janukowitsch, vor allem Mitglieder der Kommunistischen Partei verfolgt, eingekerkert, misshandelt und getötet. Nachdem der gegenwärtige, an der Macht befindliche, ukrainische Präsident Poroschenko, am 15. Mai 2015 das Gesetz über das Verbot des Zeigens kommunistischer Symbole auf dem Territorium der Ukraine unterzeichnet hat, haben die rechten Schlägertruppen quasi freie Hand, gegen Kommunisten vorzugehen.
B.: Spielte der 70. Jahrestag der Befreiung vom Hitlerfaschismus in der Ukraine unter diesen Umständen überhaupt eine Rolle?
O.: Ja, eine sehr große Rolle sogar! Schon vor dem 9. Mai war von der jetzigen ukrainischen Regierung das Zeigen kommunistischer Symbole untersagt worden. Trotzdem marschierten allein in Odessa 45 000 Menschen über die Allee des Sieges unter Rufen „Bandera raus aus der Ukraine!“ und legten sowohl am Ehrenmal der im Großen Vaterländischen Krieg gefallenen sowjetischen Soldaten, als auch am Haus der Gewerkschaften, in dem vor einem Jahr über 100 Menschen von den Rechten verbrannt und gemeuchelt wurden, Blumen nieder. Das zeigte, dass die Menschen in Odessa an diesem Tage ihre Angst bezwungen haben.
B.: Was erwartet ihr von den Menschen in Deutschland, die vor 70 Jahren durch die Sowjetarmee vom Faschismus befreit wurden?
O.: Wir haben die Hoffnung, dass die Deutschen, die den 2. Weltkrieg überlebten und wissen, was Faschismus ist, uns im Kampf gegen den Faschismus in der Ukraine helfen. Sie sollten sich an Friedensdemonstrationen und Mahnwachen gegen den Krieg beteiligen, bzw. sich an die deutsche Regierung wenden mit den Forderungen: die Finanzierung der ukrainischen Regierung, die einen Genozid am eigenen Volk in der Ostukraine verübt, einzustellen und die Bestrafung der Täter des Odessa -Massakers von der Ukraine zu fordern.
B.: Was erwartet ihr speziell von den Linken, der Friedensbewegung und den Kommunisten?
O.: Sie sollten an möglichst vielen Diskussionen zum Thema Ukraine teilnehmen. Offizielle Vertreter der Linken sollten richterliche Einsichtnahmen in die Dokumente des Odessaer Massackers fordern, sowie auf der Bestrafung der Täter bestehen. Vertreter von linken Parteien und Organisationen sollten europäische Institutionen beeinflussen, kein faschistisches Vorgehen gegen Andersdenkende in der Ukraine zuzulassen und das, was den Anlass zur Gründung der Weltorganisation geführt hat, nämlich „Nie wieder Faschismus und Krieg!“ zuzulassen, in die Tat umgesetzt wird!
B.: Oleg, vielen Dank für das Gespräch. Wir werden unser Bestes tun, die Wahrheit über die Lage in der Ukraine zu verbreiten und Euch in Eurem Kampf gegen den Faschismus im Lande zu unterstützen!