Am Mittwoch, den 8.Juli um 18 Uhr veröffentlichte WikiLeaks drei weitere NSA-Abhörprotokolle von Gesprächen der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel, zusammen mit einer Liste von 56 NSA-Selektoren, die sich auf die Bundeskanzlerin und das Bundeskanzleramt beziehen.
Die Liste enthält nicht nur vertrauliche Telefonnummern der Bundeskanzlerin, sondern auch die Nummern ihrer Spitzenbeamten, ihrer Assistenten, ihres Stabschefs, ihres Büros und sogar ihres Fax-Anschlusses. Die gesammelten NSA-Ziellisten, die von WikiLeaks veröffentlicht wurden, belegen die gezielte Langzeit-Überwachung von 125 Telefonnummern deutscher Politiker und Beamter – und zwar aus politischen und wirtschaftlichen Gründen, wie aus den Kennzeichnungen in den Dokumenten selbst hervorgeht.
Die heute veröffentlichen Protokolle zeigen, dass die obersten Ebenen der US-Administration Merkels Pläne zur internationalen Finanzkrise und der europäischen Bankenrettung ausgewertet haben. Auch ihre privaten Ansichten über das Engagement von Präsident Obama gegenüber dem Iran wurden während eines Gespräches mit dem Kronprinzen Shaykh Muhammad bin Zayid al-Nuhayyan aus den Vereinigten Arabischen Emiraten abgehört.
Die Zielliste enhält fast zwei Dutzend Telefonnummern aus Merkels Büro im Bundeskanzleramt und verdeutlicht, wie eng das Netz der Überwachung um die Bundeskanzlerin gestrickt ist. Die intensive US-Spionage rund um die Bundeskanzlerin macht verständlich, wieso sich das Weisse Haus ohne Probleme bereit erklären konnte, die Überwachung von Merkel selbst einzustellen: eine solche Zusage wird für andere Mitglieder des deutschen Bundestages nicht gegeben – und die Kanzlerin kann die Regierungsgeschäfte nicht nur mit Selbstgesprächen führen.
Die Selektorenliste enthält mehrere Handynummern, darunter die Vodafone-Nummer von Merkel, die während 2013 in Benutzung war. Ebenfalls auf dieser Liste ist die Vodafone-Nummer des damaligen Kanzleramtsministers Roland Pofalla, der von 2009 bis Dezember 2013 (und damit zum Zeitpunkt der ersten Snowden-Veröffentlichungen) auch die Dienstaufsicht über den BND ausübte. Pofalla erklärte am 12.August 2013 nach den ersten Snowden-Veröffentlichungen, dass „die USA uns ein No-Spy-Abkommen angeboten haben“ – was aus heutiger Sicht nicht zutreffend war.
Pofalla wurde in der letzten Sitzung des NSA-Untersuchungsausschusses am vergangen Donnerstag (2.Juli) befragt und gab an, dass es keinerlei Beweise für eine Spionage gegen die Bundeskanzlerin Merkel gibt, obwohl schon im Februar 2014 durch eine Snowden-Veröffentlichung bekannt wurde, dass die NSA eine Telefonnumer von Merkel überwacht – was den Anstoss für eine weitergehende Untersuchung des Bundesstaatsanwaltes war, die aber am 12.Juni dieses Jahres „aus Mangel an Beweisen“ eingestellt wurde. Die heutigen WikiLeaks-Veröffentlichungen der NSA-Abhörprotokolle und Selektorenlisten belegen jedoch hinreichend, dass eine solche Überwachung stattgefunden hat. WikiLeaks-Herausgeber Julian Assange: „Es gibt genügend Beweise für US-Spionage auf deutschem Boden. Es ist an der Zeit, die Untersuchung wieder neu zu eröffnen. Die NSA muss ihre illegalen Aktivitäten gegen Deutschland sofort einstellen.“
Die T-Mobile- und O2-Handynummern von Géza Andreas von Geyr, ehemaliger Abteilungsleiter für Aussen- und Sicherheitspolitik im Bundeskanzleramt und damit zuständig für die Beziehungen zu den USA, wurden ebenfalls ins Visier genommen – ebenso wie die T-Mobile-Nummer von Bernhard Kotsch. Er ist zur Zeit stellvertretender Büroleiter im Bundeskanzleramt.
Die Namen, die einigen der Selektoren zugeordnet sind, deuten darauf hin, dass die US-Spionage im Bundeskanzleramt nicht erst mit der Amtszeit von Merkel begonnen hat. Auch Mitarbeiter von Bundeskanzler Schröder (1998-2002) und Helmut Kohl (1981-1998) befinden sich in dieser Liste. Das entspricht dem Vorgehen der USA beim Abhören von französischen Stellen, die auch die Amtszeiten der früheren Präsidenten Sarkozy und Chirac umfassen.
Die Liste wurde mehr als ein Jahrzehnt aktuell gehalten, nachdem sie 2002 entstanden ist. Eine eingehende Studie der Liste zeigt, dass sie aus früheren Listen entstanden ist, die bis in die 90’er Jahre zurückreichen, da sogar einige Nummern des alten Bundeskanzleramtes in Bonn aufgeführt werden, die heute noch immer für Weiterleitung nach Berlin in Benutzung sind.
Viele der Zielnummern gehören Spitzenbeamten und Beratern, die für die Wirtschafts- und Finanzpolitik im Bundeskanzleramt (Abteilung 4) oder die Aussen- und Sicherheitspolitik (Abteilung 2) zuständig sind. Es ist zudem bemerkenswert, dass die Liste auch Nummern aus der Abteilung 6 enthält, die für die Koordination des deutschen Geheimdienstes verantwortlich ist.
Die heutigen Veröffentlichungen beinhalten drei NSA-Berichte aus Abhörmaßnahmen. Einer dieser Berichte stammt aus dem Jahr 2009 und legt Merkels Ansichten zur internationalen Finanzkrise vom Februar 2009 offen. Darin werden Merkels Bedenken über schrumpfende Bankvermögen und das Vorgehen der US-Notenbank festgehalten. Die Bundeskanzlerin bekundet Unterstützung für die geplante Handhabung von toxischen Bankpapieren, die am 2.April 2009 bei einem G-20-Treffen in London besprochen wurden und fordert von den Banken eine gemeinsame Verantwortung für toxische Papiere. Dem Bericht zufolge stellt sie klar, dass zumindest Deutschland keinen „anonymen Abfalleimer“ für solche Altlasten einrichten wird. Dem Bericht nach glaubt Merkel, dass die US-Notenbank „Risiken eingeht“.
Der zweite Bericht, der ebenfalls heute veröffentlicht wird, basiert auf einer Unterhaltung im März 2009 zwischen der Bundeskanzlerin und Kronprinz Shaykh Muhammad bin Zayid al-Nuhayyan aus den Verinigten Arabischen Emiraten. Die zwei hatten sich im Januar des gleichen Jahres schon persönlich getroffen, als der Prinz zu einem Besuch in Deutschland war. In ihrem abgehörten Gespräch tauschen sich Merkel und der Kronprinz über die Reaktion Teherans zu einer Fernsehansprache Präsident Obamas aus, die dieser anlässlich des iranischen Neujahrsfestes (Nowruz) am 20.März 2009 an das iranische Volk gerichtet hatte. Gegenstand des Gespräches ist auch die Reaktion der iranischen Führung auf diese Initiative Obamas. Der Bericht ist als „Streng geheim“ klassifiziert und höchst sensitiv; wurde aber innerhalb des US-geführten Spionagerings „Five Eyes“ mit Großbritannien, Australien, Neuseeland und Kanada geteilt.