Der kanadische Premierminister Stephen Harper soll endlich eine nationale Untersuchungskommission einsetzen, um das wahre Ausmaß der Verbrechen an indigenen Frauen in seinem Land zu ermitteln. Dazu hat die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) den Premierminister anlässlich des Internationalen Tages zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen am 25. November aufgefordert.
„Die kanadische Bundespolizei RCMP hat in einem Bericht selbst festgestellt, dass fast 1.200 Frauen der indianischen First Nations, der Inuit und Métis zwischen 1980 und 2012 vermisst gemeldet und mehr als 1.000 von ihnen ermordet wurden“, schrieb die Menschenrechtsorganisation an Harper. „Eine unabhängige Untersuchung ist der einzige Weg, ein ungeschöntes Bild über den Umgang der Sicherheitskräfte mit dieser Opfergruppe zu erhalten und eine tragfähige Grundlage für längst fällige Reformen des Polizeiwesens zu schaffen.“ Den Sicherheitskräften wird von den betroffenen Familien systematischer Rassismus vorgeworfen. Harper weist diesen Vorwurf weit von sich.
„Viele der Frauen sind Mütter, oft sind es aber auch sehr junge Mädchen“, berichtete die GfbV-Referentin für indigene Völker, Yvonne Bangert am Freitag in Göttingen. „Ihren Familien und ihrem ganzen Volk geht mit ihnen ein Stück Zukunft verloren. Sie nennen diese Frauen deshalb „stolen sisters“ – „geraubte Schwestern“.“ Eine Bewegung gleichen Namens dokumentiert in Kanada Schicksale, organisiert Mahnwachen, fordert Aufklärung von Fällen, die zu den Akten gelegt wurden. Dem kanadischen Staat wirft „Stolen Sisters“ vor, dass nach indigenen Frauen nicht so intensiv gesucht werde wie nach Frauen anderer ethnischer Abstammung.
„Indigene Frauen werden oft als Prostituierte oder Alkoholikerinnen abgestempelt und dadurch selbst für ihr Schicksal verantwortlich gemacht“, kritisierte Bangert. „Dabei brauchen sie, die als Frauen und Ureinwohnerinnen doppelt diskriminiert sind, dringend Hilfe, um ihre Lebensbedingungen zu verbessern und der Armut zu entkommen.“
11,3 Prozent aller offiziell gemeldeten Vermissten und 16 Prozent der weiblichen Mordopfer in Kanada sind indigene Frauen. Dabei machen sie nur 4,3 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Während im Durchschnitt 83 Prozent der Vermisstenfälle in Kanada aufgeklärt werden, sind es bei den Fällen mit indigenen Opfern nur 53 Prozent. Die Täter stammen meist aus dem persönlichen Umfeld der Opfer. Die GfbV geht davon aus, dass weit mehr indigene Frauen verschwunden sind, missbraucht und ermordet wurden als offiziell angegeben. Denn nicht alle Familien geben Vermisstenanzeigen auf. Sie trauen der Polizei oft nicht. Darüber hinaus differenzieren die Statistiken häufig nicht nach ethnischer Zugehörigkeit eines Mordopfers.
Mitte August 2014 empörte der Fall der 15-jährigen Tina Fontaine von der Sagkeeng First Nation ganz Kanada. Polizisten und eine Sozialarbeiterin sprachen mehrfach mit ihr, als sie bereits auf den Vermisstenlisten geführt wurde, brachten sie aber nicht nach Hause. Dann wurde ein Müllsack mit ihrer Leiche aus dem Red River in Manitoba gezogen.