Diese Betrachtungen sollen keineswegs eine Meinungsmache in Bezug auf den bevorstehenden Volksentscheid zum Tempelhofer Feld sein. Die Gedanken zum Konstrukt der Leere wurden vor zwei Jahren in den Prenzl‘berger Ansichten, einer lokalen Bezirkszeitung in Berlin, veröffentlicht, welche damals mit leerem Titelblatt erschien. Sie sollen lediglich an diesem Sonntag etwas Besinnliches in unseren sonst so VOLLen Alltag bringen – das humanistische Wort zum Sonntag sozusagen.

Ein Vergleich: der Prenz­lauer Berg in den 90er Jahren und heute.

In jener Zeit gab es eine Menge Freiräume: sichtbare und weniger sichtbare. Sichtbar waren „Kriegs­lücken“, also Brachflächen, die als „Leere im öffentlichen Raum“ dazu einluden, hier kreative Ideen auszuleben. Mit oder ohne Genehmigung. In dieser Zeit entstanden auf diesen Flächen zum Beispiel viele Spielplätze. Prenzl‘berg war unterversorgt und soziale Projekte wie der abenteuerliche Bauspielplatz in der Kollwitzstraße konnten entstehen.

Die weniger sichtbare Leere bezog sich auf die marode Bausubstanz: Straßen voll mit unsanierten Häusern, deren Erdgeschossläden vielerorts leer waren. Dort gab es ebenso Kreativ-Projekte, vornehmlich Künstler, legale und illegale Cafés und Clubs, temporäre Zwischen­nutzungen, Initiativen verschiedener Couleur, Kiezläden, einige heute etabliert, andere verschwunden oder weitergezogen. 

Der Mauerpark war gerade erst „entmauert“ und lag noch im Dornröschenschlaf. Auf dem Kolle wurde am 30. April noch Walpurgisnacht gefeiert, mit riesigem Feuer.

Diese Beschreibung soll auf gar keinen Fall wertend sein oder ein Hohelied auf „die guten alten Zeiten“. Nein. Uns interessiert hier das Konstrukt der „Leere“.

Der ehemalige Flughafen Tempelhof

Seit er öffentlich begehbar ist (und hier mal ein Dank an die Aktivist/innen, die die Öffnung erzwungen haben), strömen tausende und abertausende Berliner/innen dort hin. Warum? Natürlich gibt es verschiedene Mo­ti­vationen, aber eine ist sicherlich die An­we­senheit der „Leere“. Wo sonst gibt es die Möglichkeit, sich auf einem so großen offenen Platz zu bewegen? Wie fühlt man sich nach einem Tag auf einem Flugplatz?

Und nun wollen sie dort bauen … und ich warte schon darauf, dass sie wieder Wege anlegen, wo man lang laufen soll, und es dauert nur einige Jahre, und dann sieht man die „realen“ Laufrouten. Kennen Sie das? Jede „Leere“ lädt ein, Vorschriften zu machen: Mach dies, mach dies nicht, laufe hier lang, laufe hier nicht lang, hier auf keinen Fall! Es scheint so, als ob die „Leere“ nicht lange existieren kann. Ihre Macht ist so gewaltig, dass es nicht lange dauert, bis jemand sich nicht mehr bremsen kann und los plant.

Unsere Köpfe sind nicht für die Leere geschaffen

Der ganze menschliche Wahrnehmungsapparat braucht Ein­drücke: etwas sehen, riechen, hören, schmecken usw. Und wenn man es schafft, bei geeigneten Meditationen diese Sinneseindrücke zu beruhigen, zum Beispiel in einem Float-Tank – man liegt in 37 Grad warmem Wasser, der hohe Salzge­halt hält den Körper an der Oberfläche, alles ist ruhig, man sieht nichts, schmeckt nichts, usw. – dann kommen all die anderen Krachmacher: Erinnerungen, Erwartungen, innere Sinne wie Hunger, Durst, ein Ziehen im Bauch.

Es scheint also, dass die Leere äußerlich wie innerlich etwas schwer zu behandeln ist. Als ob sie Zwanghaftigkeiten offenbart, sich entweder äußerlich zu verwirklichen oder etwas innerlich auszugleichen, zum Beispiel einen Mangel.

In der Musik existiert die Leere auch, wenn auch nur kurz. Eric Satie beispielsweise konnte einem mit seinen großen Pausen zur Verzweiflung oder ins Glück treiben. Die Leere in seinen Stücken erzeugt interessante Spannungen. Oder Robert Musil, als er feststellte: „Der geliebte Mensch scheint dort zu stehen, wo sonst etwas fehlt“.

In der Philosophie heisst die Leere „Nichts“ und Jean-Paul Sartre bestimmte sie als die eigentliche menschliche Freiheit. In mystischen Strömungen des Christen­tums, die immer im Streit mit der „offiziellen“ Kirche lagen, und des Islams spielt die Leere eine Rolle, in Linien des Buddhismus genauso wie in der siloistischen Lehre. Auch einige Formen der Meditation haben die Leere als zentrales Element.

„Wie würden Sie den Kom­fort in der eigenen Stadt verbessern?“

Ganz einfach: Mehr Leere bitte! Wenn man die Planungen zur Bebauung des Mauer­parks oder des ehemaligen Flug­hafens Tempelhof sieht, möchte man rufen: Hey Leute, lasst doch mal! Lasst doch mal etwas frei und offen, ungenutzt, ohne Einschränkungen, frei zum Luft holen, frei zum Ausleben.

Als sich der Vikar Reinhard Lampe 1986 als Protest gegen die Mauer in der Eberswalder Straße nur im Lendenschurz bekleidet an ein offenes Fenster stellt und kurze Zeit später verhaftet wird, schreibt er einen Aufsatz mit dem Titel: „An­trag auf Absage an Praxis und Prinzip der Ab­gren­zung“. Damit will er den Zusammen­hang zwischen der damaligen militärischen Abschreckung und ideologischer Abgrenzung aufzeigen.

Daran anlehnend würden wir formulieren: „Antrag auf Anerkennung der Leere als konstruktives Element und Vorbe­din­gung für menschliche Freiheit.“ Damit würden wir auf den Zusammenhang zwischen dem Wahn, alles kontrollieren zu müssen, und der Angst vor der Leere als Vorbedingung für men­schliche Freiheit hin­­weisen wollen.

Michael Steinbach