Seit circa sechs Wochen gibt es die so genannten Montagsdemos. Sie sind Mahnwachen für den Frieden, es wird aber auch für ausgewogenere Medienberichterstattung und gegen den internationalen Finanzkapitalismus protestiert. Die Mahnwachen finden in mehreren deutschen Städten statt und haben erstaunlich viel Zulauf, stehen aber unter harscher Kritik vor allem linker Gruppierungen und unter Beschuss der Medien. Folgender Bericht, geschrieben von Pedram Shahyar, einem langjährigen linken Aktivisten und Beobachter von Protestbewegungen weltweit, stellt auf ausgewogene Art die Situation dar. Er ist auch hier auf seiner Webseite zu finden.
Es war eine Freundin aus Pankow, die mich zum ersten Mal auf die Montagsmahnwachen aufmerksam gemacht hat. Sie hat mit aktiver Politik nichts am Hut, sympathisiert mit den Linken und wollte „jetzt unbedingt was für Frieden machen in diesen Zeiten“. Wie auch allen anderen linken Freunden von mir, waren diese Aktionen völlig an mir vorbeigegangen. Als ich nach dem Ort und der Zeit recherchierte, weil sie mich darum bat, stieß ich auf die Warnung meiner Organisation Attac vor diesen „neurechten Demos“.
Ich war skeptisch als ich das las. Ich trage nämlich ein politisches Trauma mit mir: das von den Montagsdemos gegen Hartz 4 im Jahre 2004. Damals war ich als Koordinator von Attac schnell mittendrin in dieser ersten echten sozialen Bewegung zu dieser sozialen Frage, die ich erleben durfte. Aber die meisten meiner Mitstreiter/innen blieben der Sache fern.
Die Nazis versuchten überall in den Demos Fuß zu fassen, hier und da solidarisierten sich sogar die Demonstrant/innen mit den Kameradschaften. In den offenen Bühnen wurden zum Teil die wirrsten Gedanken geäußert, abstruse Zinskritiker flyerten kleinere Versammlungen voll und stießen nicht selten auf Zustimmung. Die maoistische Gruppe der MLPD bestimmte am Anfang die Demos in Berlin mit einem abstrusen Kurs und es brauchte sehr viel Mühe, ihnen die Kontrolle über die Demos zu entreißen. Die meisten Linken konnten damals vor allem kulturell mit den Demonstrant/innen wenig anfangen – sie kamen aus einer anderen Schicht, sprachen eine andere Sprache. So blieben wir wenige Linke, die diese größte Bedrohung für das größte neoliberale Projekt wirklich ernst nahmen und sich voll hinein begaben. Wir verloren diesen Kampf gegen die rot-grüne Regierung, aber es gelang, die Montagsdemos für einen progressiven Geist zu gewinnen und dadurch das gesellschaftliche Klima massiv zu beeinflussen. In vielen kleineren Orten lebten die Initiativen noch Jahre lang weiter und das Engagement blühte förmlich auf. Aber dieses Gefühl der Vereinsamung an einem entscheidenden historischen Moment hat mich politisch geprägt. Ich tat vieles danach, damit sich das bei den aktivistischen Linken nicht wiederholt, und ich dachte wir sind weiter.
Nach dieser Vorgeschichte und als ich erfuhr, dass auch noch Jürgen Elsässer am letzten Montag in Berlin spricht, musste ich mir von meiner Spätschicht frei nehmen und bin hin gegangen, um mir das Ganze mal mit einem kritischen Auge anzuschauen. Das, was ich dort sah, passte überhaupt nicht zu den warnenden Stimmen, die ich in meinem Umfeld gehört hatte. Die Menge war vom Bild her ähnlich dem, was auch damals auf den Montagsdemos 2004 war: sehr gemischtes Publikum, meistens Leute, die noch nie auf Demonstrationen waren. Die einzigen Transparente zitierten Gandhi, Brecht und Hessel: „Empört Euch“. Klar, ich sah auch Gruppen aus der Neonazi-Szene und auch den Chef von NPD in Berlin. Sie kommen immer, wenn eine Bewegung von „einfachen Leuten“ losgeht, wo sie sich unerkannt erstmal sicher fühlen können. Aber die Reden und auch das Beifallverhalten zeugten auf keinem Fall von einem rechten Geist. Ganz im Gegenteil.
Ich habe mir die Gesichter angeschaut, während ich die Reden von Lars Mährholz und Jürgen Elsässer verfolgte. Nein, ganz klar es ist kein rechtsgerichteter Hass hier zu spüren. Es ist eine Wut gegen „die da Oben“ oder die „gleichgeschaltete Presse“, ein großes Selbstbewusstsein über die Bewegung, die man gerade startet. Wenn diese Kundgebung einen „Frame“ hat, also eine Deutung von sich selbst, dann ist das eine Mischung aus Friedensbewegung und Occupy. Man kann dieser Menge Naivität vorwerfen, wie jeder Bewegung, die von Leuten kommt, die sich neu politisieren. Ich habe in den großen Revolten auf dem Tahrir, in Madrid und im Gezi-Park in Istanbul auch viel Naivität gespürt – eine hoffnungsvolle Naivität ist der zynischen Besserwissermentalität von Depressiven immer vorzuziehen.
Imperialismus, Kapitalismus und Obskurantismus
Am nächsten Abend sitze ich mit Aktivisten dieser Bewegung in einer Kneipe. Wir sind uns in vielen Fragen einig. Dass man Rassist/innen bekämpfen muss und auch den Antisemitismus. Über Familienpolitik werden wir uns nicht einig, archaische Bilder von heiler Natur, prä-zivilisatorische Wunschträume von Natürlichkeit und Authentizität werden geäußert, die mit meiner bohèmen, hedonistischen Lebensphilosophie aber nun gar nicht vereinbar sind. Aber solange man die Homosexuellen respektiert, muss ich mit dem Familienbild von Menschen nicht übereinstimmen, um mit ihnen gegen Krieg und kapitalistische Ausbeutung kämpfen zu können. Viel Esoterisches liegt in der Luft, aber auch die Erzählung von „Truthern“, die satanistische Verschwörungen an den zentralen Machtstellen zu enttarnen wüssten, versetzten mich in ein tiefes Staunen. Naivität wird hier obskur, aber es ist möglich den Dialog fortzuführen. Ich weise auf die Rolle von Staaten im imperialen System hin, und die Verwobenheit von Staat und Finanzkapital, auf die Netzförmigkeit der Macht, die kein Zentrum mehr besitzt, aber hierarchische Ordnungen, wo der US-Staat und die NSA natürlich eher oben zu verorten sind, wo aber auch die Rolle der Europäischen Zentralbank EZB nicht zu unterschätzen sei. Mein Gegenüber denkt nach, wir werden uns nicht einig, aber hören uns zu.
Anti-imperiale Souveränität und der neurechte Diskurs
Diese Bewegung organisiert sich ausschließlich über das Internet. Während ich über die Ostermärsche nichts aber auch gar nichts in Facebook finden konnte, hat die Gruppe Anonymous, eine der Seiten, die hierzu aufruft, über 400.000 Follower. Und in der Tat, hier entdeckt man immer wieder Versatzstücke von dem, was einen neurechten Diskurs ausmacht. In einem Beitrag ist von „Deutschfeinden“ die Rede, der „Amerikanisierung der Kultur“ und dass Deutschland sowieso noch besetzt sei. Die Basis dieser neurechten Ideologie ist der Diskurs über Souveränität, den Jürger Elsässer systematisch und zugespitzt führt. Deutschland sei kein souveräner Staat, und müsse sich vom Joch der USA befreien, so hier die Argumentation, und das wiederum brauche eine Stärkung des nationalen Bewusstseins und Stärke. Geopolitisch zielt er auf das Herausbrechen der BRD aus dem westlichen Block und eine Hinwendung zu den autoritären Regimen in Russland und China, um die Dominanz der USA zu schwächen.
Insbesondere nach der NSA-Affäre haben wir ein berechtigtes und großes gesellschaftliches Unbehagen über das offensichtlich imperiale Verhalten der USA und das sklavische Ducken der Bundesregierung. Das Gefühl, Deutschland sei ein Vasall der USA, ist weit verbreitet und trifft auch geopolitisch einen wahren Kern. Elsässer und Co. vertreten hier eine Querfrontstrategie, indem sie bewusst mit rassistischen Projekten (Hochfeiern von Sarrazin, Hetze auf Sinti und Roma etc.) das rechte nationalistische Unbehagen über die „nationale Schwäche“ der BRD bedienen und stärken. Dies ist ein oberflächlich anti-imperialer Jargon, der als anti-amerikanischer Nationalismus in der Loslösung von den USA eine Forcierung und Entfesslung des deutschen Imperialismus versucht.
Die inhaltliche Verbindung des Imperialismus mit dem Finanzsystem wird in dem Moment nazistisch, wenn Verschwörungstheorien antisemitische Züge entwickeln. Dies läuft vor allem in der Debatte über die Rolle der Federal Reserve Bank FED. So sehr Kritik an FED berechtigt ist, und Kriege wie im Irak 2003 auch währungspolitisch motiviert sein können: der Ansatz, der FED liege eine Verschwörung zu Grunde (vorwiegend von jüdischen Finanziers), die die Welt in den Krieg und Abgrund ziehen wolle, ist nicht nur faktischer Unsinn und Hokuspokus, sondern klar in der Linie des nationalsozialistischen pseudo-Antikapitalismus.
Es ist vollkommen ungerechtfertigt, diffamierend und voreingenommen, der Mehrheit der Demonstrant/innen auf den Mahnwachen solch ein nazistisches Weltbild zu unterstellen. Der pauschale Vorwurf, alle Verschwörungstheorien seien (strukturell) antisemitisch und das Bild dieser Leute wäre hermetisch geschlossen, ist nicht nur eine Verharmlosung des Antisemitismus, sondern zeugt von einer Geste der politischen Kapitulation. Sorry, auch wenn ich fast Pickeln bekomme wenn ich mich solchen Debatte aussetze, aber esoterisch zu sein oder an geheime Logen zu glauben, oder daran, dass die Amerikaner selber den 9.11. veranstaltet haben, das macht noch keinen Neurechten!
Was der Kern der Organisatoren der Mahnwachen für eine Strategie verfolgt, ist noch unklar (wenn sie überhaupt eine kohärente Strategie besitzen). Sie haben oft genug sich von der rechten Zuschreibung distanziert und den multi-ethnischen und friedlichen Charakter der Mahnwachen betont. Der solidarische Ton in einigen Reden gegenüber den Menschen in südeuropäischen Ländern (insbesondere bei Mährholz) zeugt nicht gerade von einem rechts-chauvinistischen Diskurs.
Auch Elsässer war am letzten Montag deutlich bemüht, keine offene Flanke nach Rechts zu zeigen, ganz im Gegenteil blinkte er bei seiner Rede heftig nach links und stellte klar, dass seine Gegner multi-religiös seien. Dennoch war es ein verheerendes Signal, dass er als Redner hier auftrat, jemand, der in seiner jüngeren Geschichte zu viele reaktionäre Manöver abgezogen hat und in der Verteidigung von Ahmadinedschad oder bei der Hetze auf Sinti und Roma sogar einen faschistoiden Ton traf. Dass auch Ken Jebsen, dessen Reden auf den Mahnwachen astrein sind (die organisierten Linken sollten sich da wirklich ein Stück abschneiden), für Elsässers Compact-Magazin schreibt, dass z.B. Thilo Sarrazin hochfeiert, gibt Grund für großer Skepsis gegenüber dem organisatorischen Kern dieser Mahnwachen.
Linker Abstentionismus: die selbstzufriedene Kapitulation
Dennoch: die Mehrheit der Menschen auf den Mahnwachen sind dort, weil sie zurecht besorgt sind um den Frieden in Europa. Diese Sorge ist real, die Nato eskaliert gegen den Osten und Russland sucht seine alte imperiale Stärke. Die traditionelle Friedensbewegung und die Linken haben es versäumt ein eigenes Aktionsangebot für diese Menschen zu machen. Während die radikale Linke zur Abwechselung mit sich selbst beschäftigt ist und die parlamentarische Linke im Wahlkampf steckt, formiert sich hier eine Bewegung, deren Potenziale und Ausgang natürlich noch offen sind. Aber egal wie sich diese Bewegung entwickelt, wir müssen auf die Menschen auf diesen Plätzen zugehen, die Kundgebungen stärken und den Dialog suchen. Immer, wenn eine wirklich gesellschaftliche Bewegung entsteht, werden wir harte Auseinandersetzungen führen müssen. Da wo es keine Grundsatzdiskussionen gibt, bewegen wir uns in unserem eigenem Zirkus. Auf dem Tahrirplatz in Kairo erlebte ich während der Kampftage gegen die Polizei massive Übergriffe einiger Demonstranten auf Frauen. Ich sah, wie im salafistischen Block (ja sie waren fast immer dabei, direkt neben den linken und liberalen) ein junges Paar auf dem Platz verprügelt wurde, weil sie angeblich im Zelt Händchen gehalten hatten. Meine Mitstreiter kamen nie auf die Idee, deswegen den Platz zu verlassen oder zu verteufeln. Sie begaben sich in die Auseinandersetzungen, die sie oft nicht gewinnen konnten, aber sie versuchten es.
Wir wissen nicht, was aus diesen Mahnwachen wird. Wenn der Konflikt in der Ukraine eskaliert, können sie eine große Dynamik entwickeln. Es kann genauso sein, dass sie in 2-3 Wochen ihr Momentum verlieren. Es kann aber auch sein, insbesondere wenn die linken Kräfte der Sache fernbleiben, dass sich wirklich ein neurechter Diskurs durchsetzt und wir eine deutsche Variante von der „Tea-Party“ bekommen, also eine rechtsgerichtete soziale Bewegung, die Teile der Wut gegen das Establishment kanalisiert. Aber unabhängig davon, wenn wir nicht lernen, mit Menschen, die anders ticken, die wirklich anders ticken und nicht unsern Jargon bedienen, in Ruhe, mit Respekt und überzeugend zu diskutieren, dann habe ich Angst davor, wenn eines Tages wirklich die große Krise kommt.
Pedram Shahyar