Nach der gestrigen Räumung des von der «Bewegung Schweizer Reisende» organisierten Protestcamps auf der Kleinen Allmend in Bern kritisieren die Gesellschaft für bedrohte Völker und Amnesty International den entwürdigenden Polizeieinsatz gegen die jenischen Familien. Sie bedauern den fehlenden politischen Willen, eine respektvolle Lösung zu finden. Umso mehr müssen Bund und Kantone nun ihrer Pflicht nachkommen, Stand- und Durchgangsplätze für die Jenischen zu schaffen.
Rückblick auf das Geschehen
Christoph Neuhaus, Regierungspräsident und Direktor der Justiz-, Gemeinde- und Kirchendirektion, hatte gestern Nachmittag gegen zwei Uhr versprochen, es werde ein Alternativplatz für die rund 120 jenischen Familien zur Verfügung gestellt. Er sollte bis vier Uhr auf dem Platz erscheinen, um den Ort bekannt zu geben. Seine Direktion ist zuständig für die Umsetzung eines im Januar 2012 angenommenen Postulats «Rasch genügend Durchgangs- und Standplätze für Fahrende schaffen». Jedoch hatte er selbst keinen Alternativplatz gefunden und erschien nicht auf dem Platz.
Statt dessen stellte die Polizei gegen vier Uhr ein Ultimatum und verlangte, dass die Jenischen den Platz in den nächsten 10 Minuten räumen müssen. Trotz weinender Kinder und ruhigen Verhaltens seitens der Jenischen kesselte die Polizei die Anwesenden ein. Rund 70 Jenische, vom Säugling bis zu den Grosseltern, wurden abgeführt. Ihre Sachen wurden beschlagnahmt, die Menschen mit Nummern auf den Unterarmen beschriftet und in eine Turnhalle verfrachtet. Die Jenischen fühlten sich in die Zeit des Nationalsozialismus zurückversetzt. Die Freilassungen der «zur Personenkontrolle» Festgenommenen machen deutlich, dass gegen niemanden strafrechtlich Relevantes vorlag und relativiert so das Vorgehen der Polizei stark.
Forderungen nicht gehört
Die Forderungen der Fahrenden nach einem Durchgangsplatz im Kanton Bern für 20 Wohnwagen und nach kultureller Anerkennung des jenischen Volkes fanden kein Gehör. Die Freilassung der Verhafteten war an die Unterzeichnung eines Rayonverbots geknüpft, welches ihnen verbietet, bis am 5. Mai die Stadt Bern zu betreten. Einige Familien, welche nicht abgeführt wurden, haben freiwillig den Platz mit ihrem Wohnwagen verlassen. Viele Familien wussten jedoch nicht, wohin sie gehen sollten, da die wenigen verfügbaren Plätze um diese Zeit schon besetzt sind.
Der als Mediator seit gestern auf dem Platz anwesende und den konstruktiven Dialog mit den Behörden suchende Venanz Nobel, Vizepräsident des Vereins schäft qwant, ist empört über das Vorgehen von Polizei und Behörden: «Nachdem die Jenischen am Dienstag von der Polizei selbst auf diesen Platz gewiesen wurden, begann ein unwürdiges Drohspiel. Die Bereitschaft der Jenischen, auf einen andern Platz auszuweichen, wurde mit harter Hand zurückgewiesen. Das Versprechen von Regierungspräsident Neuhaus entpuppte sich im Nachhinein als Hinhaltetaktik, die ohnehin friedlichen und gewaltfreien Menschen ins Leere laufen zu lassen.»
Untersuchung der Ereignisse gefordert
Die Gesellschaft für bedrohte Völker und Amnesty International beobachteten den ganzen Tag die Situation auf dem Platz und waren Zeugen der Räumung. Die beiden Organisationen bedauern zutiefst, dass keine friedliche Lösung gefunden wurde und die Polizei den Räumungsauftrag von der Stadt Bern bekommen hat, trotz eingebrachter Vorschläge für einen Alternativplatz und der Bereitschaft der Jenischen, auf einen solchen auszuweichen.
Zusammen mit den Jenischen und Anwälten werden die Menschenrechtsorganisationen auf einer genauen Untersuchung der Vorfälle der letzten Tage bestehen.
Europäisches Rahmenabkommen muss endlich umgesetzt werden
Die politische Aufarbeitung dieser Demonstration und ihrer polizeilichen Folgen muss dazu führen, dass die langjährigen Versprechungen zur Verbesserung der Lebensumstände der Jenischen und zur Schaffung von Stand- und Durchgangsplätzen endlich zügig an die Hand genommen werden. Die Schweiz hat sich bereits im Oktober 1998 verpflichtet, das Rahmenabkommen des Europarates zum Schutz der nationalen Minderheiten umzusetzen. Daraus ergibt sich die Verpflichtung für Bund und Kantone, Bedingungen zu fördern, die es den nationalen Minderheiten ermöglichen, ihre Kultur zu pflegen und weiterzuentwickeln. Die Anerkennung des Jenischen Volkes als gleichberechtigte Minderheit in der Schweiz muss endlich verwirklicht werden.